Wien und die Sucht nach Wagner

Wien Sucht nach Wagner
Wien Sucht nach Wagner(c) EPA (DANIEL KARMANN)
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Das Wagner-Jahr 2013 wirft seine Schatten voraus. Die Philharmoniker spielen Opernmusik im Neujahrskonzert. Die Nationalbibliothek zeigt eine Wagner-Ausstellung. Das Publikum konsumiert Musik wie im Rausch.

Angeblich 77 Proben – und dann eine Pleite: Die Wiener Oper scheitert an Richard Wagner. Die geplante Uraufführung von „Tristan und Isolde“ bringt man nicht zustande. Was hätte das für eine schöne Vitrine im Rahmen der schön bestückten Ausstellung gegeben, die unsere Nationalbibliothek aus Anlass des 200. Geburtstags des Komponisten bis Ende Februar in ihrem Prunksaal zeigt.

Aber die Ehre der „Tristan“-Uraufführung kommt München zu. Dort lässt man sich ein paar Jahre mehr Zeit, bekommt dafür dann aber gleich auch die „Meistersinger“ dazu geliefert.

Rettung durch Walzerprinzen. Wien ist gescheitert. Die Opernstadt, in der nach der Wiener Klassik so wenige bedeutende Opern ihre Weltpremiere erlebt haben, versagt beim größten deutschen Opernmeister vollständig.

Oder doch nicht?

Eine Ehrenrettung gelingt den Walzerprinzen. Die Söhne von Johann Strauß, voran der Mittlere, Joseph, der Sensible, sind den tönenden Verführungskünsten des als hypermodern geltenden „Zukunftsmusikers“ verfallen. Und sie dirigieren das in jenen Jahren nachweislich allerbeste Orchester der Stadt, schon Hector Berlioz schwärmt von dessen Qualität.

Noch bevor sich das Orchester Hofoper in den chromatischen Verzweigungen der polyfonen „Tristan“-Partitur rettungslos verliert, manövriert sich die Joseph-Strauß-Kapelle geschmeidig durch „Vorspiel und Liebestod“. Im Frühjahr 1860 kündigt die Strauß-Kapelle die Uraufführung an. Joseph hat Wagners Musik für seine Zwecke neu orchestriert, ohne aber die musikalische Struktur anzukratzen: Was er spielt, ist von Wagner, und es ist die „fortschrittlichste“, die modernste Musik dieser Ära.

Der Meister selbst kann ein Jahr später, im Mai 1861, das kleine Weltwunder begutachten und ist zufrieden: Was von seinen Feinden gern als Hirngespinst abgetan wird, ist spielbar. Die Hofopernmusiker haben zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht begonnen, sich auf die avantgardistische Herausforderung einzulassen.

Sie hatten 1858 mit dem „Lohengrin“ erstmals eines der umstrittenen Wagner-Dramen einstudiert. Nun kommt der Komponist selbst. Er hört sein Stück in Wien zum ersten Mal und ist gerührt über die Qualität der Wiedergabe. Also macht er sich berechtigte Hoffnungen, sein experimentellstes Werk, den „Tristan“ im Kärntnertortheater (die heutige Staatsoper wird erst 1869 eröffnet) aus der Taufe heben zu können.

Die „Sträuße“, die auf ihre Weise für die Popularisierung seiner Musik sorgen, kennt er schon lang. Als junger Mann erlebt er, wie Strauß Vater aufspielt und sein Publikum in Raserei versetzt, in einen Rauschzustand, der, wie Wagner bewundernd anmerkt, „mehr von der Musik als von den genossenen Getränken“ herrührt.

Narkotische Wirkung. Die geradezu narkotische Wirkung, die Musik ausüben kann, wird seine eigene Domäne werden. Sie wird auf die Familie Strauß zurückstrahlen, die in ihrer Begeisterung für Wagners Wirken manche Elemente, vor allem die raffinierten Harmonie- und Instrumentationseffekte in ihre Walzer, besonders in die fantasievollen Introduktionen zu denselben, herüberretten wird. Wenn beim Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker diesmal wieder Joseph Strauß' „Sphärenklänge“ zu hören sein werden, dann wird für den aufmerksamen Hörer gewiss gleich in den ersten Takten der Einfluss der „Tristan“-Klangwelt fühlbar.

Solche Seelenverwandtschaften stoßen im Wien der Gründerzeit sogleich auf skeptische Ohren. Die Feinde Richard Wagners sind in der Sekunde auch heftige Kritiker der Strauß-Familie, sobald die künstlerischen Synergien zwischen Tanzboden und Opernbühne offenbar werden.

„Nicht alles, was im Dreivierteltakt spielt, ist darum schon ein Walzer“, ätzt Eduard Hanslick, der schon zu Lebzeiten legendäre Musikreferent der „Neuen Freien Presse“. Er münzt seine Kritik bereits Mitte der Fünfzigerjahre auf Novitäten von Johann Strauß Sohn, als der sich denkbar weit von den verhältnismäßig gemütlichen Vorgaben des Herrn Papa und denen von dessen Compagnon Joseph Lanner entfernt, mit „ächzenden verminderten Septimen und Nonenakkorden, Posaunen- und Paukendonner“, wie Hanslick befindet.

Es herrscht Kulturkampf. Die gefährlichen Zündler sind unter uns. Ihr Vorkämpfer ist und bleibt Richard Wagner. Steckbrieflich gesuchter Anarchist aus den Revolutionsjahren 1848/49, musikalischer und theatralischer Umstürzler. Die Wiener Walzerkünstler marschieren da an vorderster Front mit. Den „Tannhäuser“ popularisiert Johann Strauß Sohn bereits 1853, da ist man von einer Wiener Aufführung der ganzen Oper noch meilenweit entfernt.

Sie kommt vier Jahre später heraus. Nicht an der Hofoper, das wäre auch politisch noch nicht opportun. Aber in der Vorstadt, am Thalia-Theater.

Die Wirkung ist sofort von jener entzweienden Kraft, die das Publikum in fanatische Parteigänger und hysterische Gegner spaltet. Bald drohen bei Wagner-Vorstellungen Prügeleien. Doch bleiben die Ohrfeigenaffären noch aufgespart: Man duelliert sich erst 1913 – bei Arnold Schönberg.

Johann Nestroy als Zeuge. Zu Wagners Zeiten hat man sich in künstlerischen Fragen noch eine Prise Humor bewahrt. Johann Nestroy gibt in einer kurz nach der Premiere eigens gedichteten „Tannhäuser“-Parodie den „Landgraf Purzel“ – für die Wagner-Ausstellung haben Andrea Harrandt und Thomas Leibnitz sogar ein originales Fotodokument davon aufgetrieben! Wer karikiert, ja sogar parodiert wird, der muss wirklich populär sein. Und wer populär ist, ist auch gefährlich. Der publizistische Kampf gegen die Neutönerei wird nun mit allen Mitteln geführt.

Wo Anklänge an Wagner ausgemacht werden, und fänden sie sich auch in einem Strauß-Walzer, wird heftig opponiert. Die gute alte Zeit wird beschworen, Strauß Vater und Lanner in diesem Fall: Was für eine „maßvolle, vornehme Haltung“ hat da geherrscht, gegenüber den „Walzer-Requiems“ der folgenden Generation . . .

Richard Wagner selbst registriert Angriffe mit seismografischer Genauigkeit. Wie tief die Treffer sitzen, wie klar das Epizentrum der Ablehnung in Wien zu verorten ist, beweist ein bemerkenswertes Detail im Entstehungsprozess des nächsten Musikdramas, der „Meistersinger von Nürnberg“, die zum Teil in Wien-Penzing entstehen.

Da wird der Kampf der fortschrittlichen, der freien Kunst gegen das traditionalistisch-verstockte Kunsthandwerk zum Thema. Und der verzopft-bösartige Reaktionär heißt in einem der Entwürfe tatsächlich Veit Hanslich.

Er wird zuletzt doch Sixtus Beckmesser genannt. Doch der echte Hanslick versteht die Botschaft auch, wenn sein Spiegelbild unter falschem Namen auftritt. Er ist zugegen, als Wagner erstmals seinen „Meistersinger“-Text vor geladenen Gästen vorträgt. Und er wird sich nach der Lesung rasch und pikiert empfehlen.

Es sind jedoch finanzielle Probleme, Schulden über Schulden, die Richard Wagner aus Wien vertreiben. Der drohenden Verhaftung entzieht er sich durch Flucht. Im März 1864 ist Ludwig II. auf den bayerischen Thron gekommen. Er wird den Komponisten aller Geldsorgen entheben. München wird die Wagner-Stadt, Wien aber die Stätte glänzender Triumphe, wenn der dann schon in Bayreuth beheimatete, über allen Kunstwolken schwebende Meister aller Meister zu Kurzaufenthalten zurückkehrt.

„Excentrische Schrullen“. Ein Jahr vor der spektakulären Inauguration der Bayreuther Festspiele mit dem „Ring des Nibelungen“, 1876, hören die Wiener Fragmente aus der „Götterdämmerung“ und geraten in Raserei wie einst bei Johann Strauß Vater. Nur Hanslick grantelt: „Das Geschraubte, excentrisch Gekünstelte dieser Musikfragmente ermüdet und macht ärgerlich wie alle Wagner'schen Schrullen.“

An der Wirkungsmacht der Musik ändert das nichts. Die wird sogar durch kabarettistische Aperçus bestätigt. Vor der Erstaufführung der Oper „Siegfried“, 1878, blödelt die „Bombe“: „Auf der Klinik für Gehörkranke im allgemeinen Krankenhaus werden bereits Vorkehrungen getroffen . . .“ Den „Tristan“ bewältigt Wien aber erst im Todesjahr des Komponisten, 1883.

Die Scharmützel haben zu diesem Zeitpunkt nicht aufgehört. Sie werden auf Nebenschauplätzen geführt. Schmerzlich für einen Künstler vom Format eines Anton Bruckner, der büßen muss, dass er leidenschaftlicher Parteigänger des Bayreuthers ist und sogar zu den Festspielen pilgert, um dem Verehrten eine Symphonie zu widmen.

Zwar verhält sich Wagner äußerst herablassend zu dem Parvenü aus dem Oberösterreichischen, nimmt aber schließlich die Dedikation der d-Moll-Symphonie an, der „Dritten“, deren Wiener Uraufführung zum verletzenden Debakel wird: Als die Philharmoniker geendet haben und der dirigierende Komponist sich umwendet, ist der Musikvereinssaal beinah leer. Das Publikum hat Reißaus genommen. Unter den wenigen Verbliebenen ist ein blasser 17-jähriger junger Mann aus Mähren, der dem Komponisten anbietet, den Klavierauszug des eben durchgefallenen Werks herzustellen: Gustav Mahler.

Mahler wird nicht nur den versprochenen Klavierauszug liefern. Er wird sich für Bruckner, vor allem aber für Wagner so wirkungsvoll einsetzen wie kaum ein Zweiter seiner Generation. Zwanzig Jahre nach dem Bruckner'schen Symphoniendesaster – die „Dritte“ haben die Philharmoniker unter Hans Richter 1890 glänzend rehabilitiert – ist Mahler nach steiler Karriere Direktor des Hofoperntheaters.

Dort arbeitet er hingebungsvoll an der Realisierung der geradezu utopischen Vorgaben des Wagner'schen Gesamtkunstwerks. Im Verein mit Alfred Roller sorgt er für eine szenische Revolution, die Erfindung des „Bühnenraums“, in dem sich die ebenso revolutionäre musikalische Entfaltung der Partitur optisch fortsetzen kann, um ihre theatralische Erfüllung zu finden.

Musiktheatertraum um 1900. Wagner wird, so will es Mahler, ohne jede Kürzung gegeben. Das dauert nicht lang, denn schon sein Nachfolger bietet wieder eine „Götterdämmerung“, in der es die Figur der Waltraute gar nicht gibt.

Aber zumindest „Wien um 1900“ liefert sich dem Wagner'schen Musiktheatertraum mit Haut und Haar aus. Die Stadt, die ein halbes Jahrhundert zuvor vor den Anforderungen des „Tristan“ in die Knie ging, bietet nun eine weithin beachtete Neudeutung des Werks durch Mahler und Roller, die Theatergeschichte schreibt.

Spätere Wagner-Pionierleistungen in Wien sind dann weniger szenischer als musikalischer Natur. Vor allem sind es die Wiener Philharmoniker, die im Schallplattenstudio ab Ende der Fünfzigerjahre die erste kommerzielle Gesamtaufnahme des „Rings des Nibelungen“ erarbeiten. Sir Georg Solti leitet die Aufnahmesitzungen in den Sophiensälen. Dabei kommt es zu einem erstaunlichen imaginären Zweikampf mit Herbert von Karajan. Der ist gerade Mahlers Nachfolger geworden und studiert ebenfalls den „Ring“ ein. Mit den Proben zu „Rheingold“ beginnt Karajan, als Solti mit seiner „Rheingold“-Aufnahme gerade fertig geworden ist.

In der Folge entstehen die Schallplattenaufnahmen, während Karajan im Haus am Ring laufend den „Ring“ dirigiert, seine eigene Plattenproduktion aber dann ab 1967 mit den Berliner Philharmonikern erarbeitet. Beide Studioversionen haben die Wagner-Rezeption entscheidend beeinflusst. Wien stand, was die interpretatorische Konzeption dieser Aufnahmen betrifft, im Zentrum. Aber da galt es ja längst nicht mehr, die Welt von der Qualität eines modernen Komponisten zu überzeugen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.12.2012)

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