Was heißt schon Wiener Klassik? Eine Spurensuche

Ildikó Raimondi, Christmas in Vienna 2005
Ildikó Raimondi, Christmas in Vienna 2005ORF
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Musikverein: Das Steude-Quartett auf dem Weg an die Spitze. Mit Ildikó Raimondi eroberten die Musiker Repertoire-Räume.

Wiener Klassik – vor 200 Jahren galt Joseph Haydn als deren Vater, vor 100 Jahren erschloss Arnold Schönberg sich und seinen Schülern neue Klangräume. Das philharmonische Steude-Quartett statuierte in seinem jüngsten Abonnementkonzert im Souterrain des Musikvereins ein Exempel: Haydns „Reiterquartett“, vor allem in den Ecksätzen mit dem rechten, vorwärtsdrängenden Elan in seiner Energetik erfasst, stand einem handwerklich exzellent gemachten Quartett Ignaz Pleyels gegenüber, das in unverbindlichem Serenadenton allen vier Musikanten solistische Entfaltungsmöglichkeiten bot.

Damit wurde der Spannungsbogen zwischen intellektuell anspruchsvoller Formgebung und unterhaltsamer „pièce bien faite“ sinnfällig. Eingangs- und Hauptwerk des Abends spiegelten ihn in die Welt der Moderne herüber: Anton von Weberns Spätversuch, romantische Empfindsamkeit in klassizistischem Erzählablauf zu bündeln – der „Langsame Satz“ aus der Studienzeit bei Schönberg –, vom Lehrer via „Streichquartett Nummer 2“ quasi hinterfragt. In diesem Schlüsselwerk, in dem uns eine Singstimme, regelwidrig wie in Beethovens Neunter, eine neue Zeit verkündet, löst Schönberg alle Klangromantik endgültig auf, treibt sie in extremer Ausdruckswut an die Spitze des im Dur-Moll-Rahmen noch Möglichen; und schließlich darüber hinaus. „Ich fühle Luft von anderem Planeten“ sang Ildikó Raimondi, blitzsauber und hell timbriert bis hinauf zum hohen C, und das Steude-Quartett lotete die Sphären aus, in geheimnisvollem Flüsterton, aber auch mit aufgewühlter, hemmungslos alle Fesseln des Guten, Wahren und Schönen sprengender Kraft.

„Quartetto domestico“ als Mahnmal

Der Komponist verarbeitet in seinem Werk einen tragischen Moment seiner privaten Geschichte, doch führt ihn sein Gestaltungswille weit über die billige Kolportage einer Ehekrise hinaus. Wenn ins Scherzo der „liebe Augustin“ hereinplatzt, steht das „Alles ist hin“ als tönendes Mahnmal für die Zerbrechlichkeit althergebrachter Kunstsysteme. Sie für dauerhafter als Erz zu halten, war ein Trugschluss, wie die Kulturgeschichte gezeigt hat. Schönberg stand am Scheideweg. Mit seinen Neudefinitionen wurde er richtungsweisend, also selbst Klassiker – ein scheinbarer Widerspruch. Die Musik irritiert daher bis heute.

Doch kann eine Aufführung wie diese zum begeisternden Erlebnis werden: Das aufmerksame Kammermusik-Publikum im Musikverein schien beeindruckt. Für den Applaus gab es Dankesworte in Schuberts Vertonung: In der „holden Kunst“ ist Dankbarkeit noch eine Kategorie. Schließlich kehrt ja auch Schönberg nach aufregenden Erkundungsgängen noch einmal, tröstlich, nach Fis-Dur zurück... sin

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.01.2013)

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