Die Klassikwelt ist keine Scheibe mehr

Klassikwelt keine Scheibe mehr
Klassikwelt keine Scheibe mehr(c) www.BilderBox.com (www.BilderBox.com)
  • Drucken

Das "Ende der CD", keine Künstlerfotos mehr zwischen Dessous oder Wurstwaren, Symphonien als Internetdownload. Offenbar haben die Schallplattenkonzerne ihre Macht verloren. Doch findet man mehr Klassik denn je in den Medien. Aufführungen der MET sieht man weltweit im Kino, Salzburgs Osterfestspiele im TV.

Schöne neue Welt für Opernfreunde: New Yorks Metropolitan Opera überträgt weltweit in Kinosäle, Christian Thielemanns Einstand im österlichen Salzburg mit Wagners „Parsifal“ kann man im Patschenkino via 3sat mitverfolgen.

Bedenkt man, dass vor nicht allzu langer Zeit TV-Stationen Opernübertragungen gefürchtet haben wie der Teufel das Weihwasser, kann man ermessen, welcher Paradigmenwechsel fast unbemerkt vor sich gegangen ist.

Zu den notorischen Klagerufen während Salzburger Festspielwochen gehörten früher Lamenti über die unerträgliche Präsenz von Schallplatten- und später CD-Werbeplakaten, die alle Auslagen dominierten. Heute findet man CD-Coverbilder in den wenigen noch existierenden Musikalienhandlungen. Seinerzeit blickte Herbert von Karajan aus sämtlichen Auslagen.

Mozart zwischen Dessous. Wagner im Ernstfall auch in der Fleischhauerei. Immerhin singt ja David in den „Meistersingern“: „Möchtet ihr nicht auch die Wurst versuchen...“ All das signalisierte, auch wenn es nicht so schien, bereits eine Nachblüte. Die Hochzeit der Schallplattenkonzerne war vorbei. Aber man tat noch, als könnte man diktieren, was zwischen Chicago und Berlin, London und Mailand in Konzert und Oper vor sich ging.

Eine Zeit lang war es tatsächlich so, dass ohne Plazet der wichtigsten Schallplattenproduzenten auf dem Klassikmarkt nichts lief. Die Wurzel dieses Phänomens liegt in den Pionierjahren der Langspielplatte. Deren Siegeszug war gleichzeitig der Triumph einer neuen Interpretengeneration. Die Namen Maria Callas oder Herbert von Karajan, Leonard Bernstein, Georg Solti oder Dietrich Fischer-Dieskau, später Placido Domingo oder heute Anna Netrebko – sie alle wären ohne mediale Vermarktung nicht zu ihrem singulären Stellenwert gekommen.

Karrieren waren stets eng mit der technischen Entwicklung, der Vermarktbarkeit musikalischer Interpretationen verknüpft. In gewisser Weise verdankt etwa „Maestro assoluto“ Karajan – mehr noch als „Primadonna assoluta“ Callas – die Karriere einem Schallplattenproduzenten, dem vielleicht allerkreativsten: Walter Legge.

Musik trotz Auftrittsverbots. Der nachmalige Ehemann der Sopranistin Elisabeth Schwarzkopf setzte auf Karajan just in jenem Moment, da er von den Alliierten nach Ende des Zweiten Weltkriegs mit einem Auftrittsverbot belegt war.

Als Vertreter der britischen Besatzungsmacht in Wien konnte Legge Aufnahmesitzungen im eben renovierten Musikvereinsgebäude mit den Wiener Philharmonikern arrangieren. Sobald sich die Möglichkeit bot, ging man daran, unter Karajans Leitung Symphonien von Beethoven, Mozart oder Tschaikowsky, Werke von Richard Strauss und anderes einzuspielen.

So entstanden die ersten Nachkriegsaufnahmen wichtiger Repertoire-Stücke und konnten in eminenten Stückzahlen abgesetzt werden. Wer dabei war, dessen Name wurde populär. Präsenz auf dem modernen Schallplattenmarkt bedeutete volle Häuser, wenn sich die Besetzungslisten der Plattenlabels mit jenen der Konzertsäle deckten.

Walter Legge gründete in London das Philharmonia Orchestra. Herbert von Karajan und Otto Klemperer wurden dessen führende Dirigenten – man produzierte reihenweise Aufnahmen des Standardrepertoires für EMI; und vieles von dem, was damals die Presswerke verließ, gilt bis heute als maßstabsetzend. Das war Legges Verdienst. Er setzte auf Qualität, produzierte zeitgleich auch in Mailand mit Maria Callas und Dirigenten vom Format eines Victor de Sabata und Tullio Serafin.

Wobei die 1953 entstandene Einspielung von Puccinis „Tosca“ für Legendenbildung sorgte. Die Callas war damals bereits ein echter Star, hatte sich aber der unerbittlichen Forderung des großen de Sabata zu beugen, wenn es um interpretatorische Details ging. „E avanti a lui tremava tutta Roma“ sagt Tosca angesichts des von ihr eben ins Jenseits beförderten Polizeichefs Scarpia: „Und vor dem hat ganz Rom gezittert.“ Dutzende Male musste die Diva diesen Satz deklamieren, bis das erlösende „bene“ de Sabatas erklang.

„Es war gut investierte Zeit“, freute sich Legge: Seine „Tosca“-Aufnahme gilt bis heute als unerreicht und hat sich millionenfach verkauft. Legge hätte auch mit weniger hochmögenden Interpreten kooperieren können und wäre sich der Bestsellerziffern sicher gewesen. Die vor allem nach Einführung der Langspielplatte wachsende Lust der Musikfreunde, sich die große Klassik ins Haus zu holen, sorgte für reißenden Absatz.

Manche Platten, etwa Karajans erste Aufnahme der Ballettsuiten aus „Schwanensee“ und „Dornröschen“ von Tschaikowsky, erreichten astronomische Verkaufszahlen. Kaum ein Jahrzehnt später ging man für ein Stereo-Remake derselben Kopplung ins Studio und erreichte erneut einen Spitzenplatz in den Charts.

Die Möglichkeiten der LP – auch die Möglichkeiten, Geld zu verdienen – schienen unbegrenzt.

Viel Geld mit Wagners „Ring“. Dabei war Legge nicht einmal der mutigste der damals führenden Köpfe der Branche. Sein Gegenspieler bei Decca, John Culshaw, kündigte an, unter Georg Soltis Leitung mit den exklusiv gebundenen Wiener Philharmonikern den kompletten „Ring des Nibelungen“ aufnehmen zu wollen. Legge feixte: Das würde sich nie verkaufen, lautete sein Befund.

Hier irrte Legge.

Die von Culshaw mit genialischer Dramaturgenhand betreute Aufnahme wurde ein voller Erfolg. Und steht kurioserweise am Beginn von Herbert von Karajans unumschränkter Medienmacht. Dass Solti das ius primae noctis in Sachen Wagner zugestanden worden war, ärgerte den Konkurrenten, der ja zur nämlichen Zeit mit demselben Orchester den „Ring“ an der Staatsoper einstudierte, maßlos.

Karajan sprengte für sich die Konkurrenzklauseln, schloss parallele Verträge mit Decca, EMI und Deutscher Grammophon Gesellschaft (DG) – und konnte das „gelbe Label“, das seine gesamte Marketingstrategie ab den späten Fünfzigerjahren ganz auf ihn abstellte – von einem Gegen-„Ring“ überzeugen. Was Solti recht war, sollte ihm billig sein. Oder teuer, wie man's nimmt. Da die Exklusivkontrakte zwar für ihn selbst nicht mehr existierten, die besten Sänger der Zeit aber selbstverständlich gebunden waren, musste der Karajan-„Ring“ beispielsweise ohne die führende Brünnhilde, Birgit Nilsson, auskommen.

Der Erfolg: Karajans (dirigentisch phänomenale) Aufnahme hat – anders als jene Soltis – bis heute die Entstehungskosten nicht hereingespielt. Die Aufnahmesitzungen dienten freilich als verdeckte Mitfinanzierung für die Osterfestspiele. Zuerst wurde – von der DG finanziert – im Studio geprobt und aufgenommen.

Dann konnte mit verhältnismäßig geringem Probenaufwand im Salzburger Festspielhaus die Neuinszenierung erarbeitet werden. Die Schallplattenaufnahme lag zur Premiere bereits vor. Wer „Förderer“ von Karajans Privatfestival war, bekam sie als Bonus zu den Premierenkarten dazu.

Schallplatte finanziert Festival. Bis Mitte der Siebzigerjahre konnte Karajan den Anschein wahren, das System sei konsistent. DG stieg zwar bereits nach dem „Ring“ wieder aus, EMI, nun ohne Walter Legge, sprang ein. Bald war es mit dem Vorausproduzieren zu Ende. Doch noch viele Jahre war es den Konzernen gegönnt, ihre Stars oder Sternchen im Festspielbezirk platzieren zu dürfen. Je weniger reale Macht dabei im Spiel war, desto mehr wurden die Insignien der Macht ausgestellt – bis hin zu den erwähnten Plakaten in sämtlichen Läden.

Mittlerweile sind die Plattencover aus dem urbanen Leben verschwunden. Keine Firma entsendet mehr ein Rudel PR-Vertreter in Festspielorte. Von CD-Produktionen großer Musiktheaterwerke im Plattenstudio ist längst keine Rede mehr. Bezeichnend, dass Peter Alward, einer der Nachfolger Legges bei EMI, mittlerweile administrativer Leiter der Osterfestspiele geworden ist. Er war es, der 2004 verkündete, seine Londoner Produktion von „Tristan und Isolde“ unter Antonio Pappano mit Nina Stemme und Placido Domingo werde die letzte kommerzielle Studioproduktion einer Oper sein.

Es scheint, dass Alward im Wesentlichen damit recht behalten hat. Der CD-Markt schien sich bald voll und ganz auf die neue Schiene der Cross-over-Produktionen zu konzentrieren. Ein Geiger mit Punkfrisur spielt Vivaldis „Jahreszeiten“ – das hievt ihn in die Pop-Charts und vervielfacht für Vivaldi die ohnehin beachtlichen Verkaufsziffern, die mit demselben Werk einst die jugendliche Anne Sophie Mutter mit Altvater Karajan erzielen konnte.

Eine junge Koreanerin in transparenter Bluse im Brunnen – egal, was auf der CD drauf ist, sie erreicht die Charts. Und Sänger? Domingo gut, Carreras besser, Pavarotti am besten – alle zusammen: unschlagbar. Mozart? Beethoven? Wagner? Puccini, das ist der, der „nessun dorma“ für die Fußballweltmeisterschaft komponiert hat. Egal wie, Klassik „sells“.

Opern werden freilich nicht mehr teuer im Studio produziert, sondern nur noch live mitgeschnitten. Karriere macht man heute wie Anna Netrebko: mit einer „Traviata“-Übertragung aus Salzburg im TV – und vielen folgenden Live-Events in aller Welt. Immer noch wird Musiktheater auf höchstem Niveau produziert. Noch nie konnten so viele Musikfreunde dabei sein.

Und die Konditionen für die Mitwirkenden? Wer heute von der MET in die Weltkinos geschickt wird, oder von der Salzburger Festspielbühne aus ins TV-Abendprogramm, muss das als Werbeaufwand verbuchen. Geld verdienen Sänger oder Dirigenten längst wieder wie die Altvordern: live, auf der Bühne.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.03.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.