Anne-Sophie Mutter: Eigenwilliger Tschaikowsky

Anne Sophie Mutter
Anne Sophie Mutter (c) EPA (Felix Hoerhager)
  • Drucken

Das London Philharmonic Orchestra unter Yannik Nézet-Séguin begleitetet die Künstlerin mit seltener Akkuratesse.

„Ob es nicht auch Musikstücke geben könnte, die man stinken hört“, fragte Eduard Hanslick in seiner berühmten Uraufführungskritik von Tschaikowskys Violinkonzert. Nichts hat den Komponisten zeitlebens so verärgert wie dieses vernichtende Urteil. Inzwischen zählt Tschaikowskys Violinkonzert zu den meistgespielten Klassikern seines Genres. Unzählig die Aufnahmen, aber auch die Möglichkeiten, es zu interpretieren, wie einem an diesem Abend im Großen Musikvereinssaal wieder einmal bewusst wurde.

Denn Anne-Sophie Mutter konzentriert sich weniger auf den sprichwörtlichen großen Bogen der drei Sätze als vielmehr auf die plastische Hervorhebung der zahlreichen Details dieses D-Dur-Konzerts. So werden Nuancen erkennbar, die man sonst kaum wahrnimmt, erscheinen die Entwicklungen des Stirnsatzes dramatischer als üblich akzentuiert. So brillant sie die vertrackten technischen Schwierigkeiten dieses Tschaikowsky meisterte, so einfühlsam formulierte Mutter die subtilen Passagen, um zum Schluss nochmals mit einem packenden virtuosen Parforceritt aufzuwarten.

Schostakowitschs Schicksal

Eine im Detail eigenwillige, in der Wahl mancher Tempi sehr freie, in ihrer Gesamtheit aber schlüssige Interpretation, die einmal mehr die Mär widerlegt, dieser Tschaikowsky besitze nur in seinem ersten Satz Größe. Es ist auch ein Verdienst von London Philharmonic und seinem Principal Guest Conductor, dem 38-jährigen Yannik Nézet-Séguin, die mit selten zu hörender Akkuratesse und Prägnanz begleiteten.

Nézet-Séguin, seit 2008 Chefdirigent der Rotterdamer Philharmoniker, seit dem Vorjahr zusätzlich Musikdirektor des Philadelphia Orchestra, ständiger Gast in großen amerikanischen und europäischen Opernhäusern, versteht nicht nur, geschmeidig einem Solisten zu assistieren, sondern auch einem so viel gespielten Werk wie Schostakowitschs Fünfter Symphonie eigene Perspektiven abzugewinnen. So nahm er sich Zeit für die Ausbreitung der melodischen Entwicklungen des Stirnsatzes, hob im Scherzo die parodistischen Züge der Musik hervor und ließ im Finale bei allem Glanz, dem er seinem Klangkörper entlockte, immer wieder Skepsis durchspüren. Schließlich versteckt sich hinter dieser d-Moll-Symphonie das Schicksal seines vom Sowjetregime ungerechterweise gemaßregelten Komponisten. Für reines Triumphgetöse ist da kein Platz. Begonnen wurde das Gastspiel mit einer elegant modellierten „Chowanschtschina“-Ouvertüre.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.04.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.