In Paris schlummert "Elektra" sanft, die Geigen flüstern dazu

(c) EPA (STEPHEN CHERNIN)
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Philippe Jordan statuiert an der viel geschundenen Partitur ein Exempel: Das Pariser Opernorchester spielt die kühnsten Harmonien in subtilem Pianissimo. Was an psychologischer Verdichtung dazu szenisch möglich wäre, verschenkt Robert Carsen an ästhetizistischen Bilderkitsch.

Richard Strauss' „Elektra“ ist ein gefährliches Stück. Legionen von Sängerinnen zahlten den Zoll für die gigantomanische Aufblähung des Orchesterapparats. In keiner anderen Partitur verlangt der Komponist nach so vielen Musikern, in keiner anderen wagt er sich harmonisch weiter in den nach Dur und Moll nicht mehr zu differenzierenden harmonischen Raum vor. Wo so viele Musiker aufspielen, wird es in der Regel laut. Wo so viele differenzierte Erzählstränge parallel laufen und zu kühnen Schichtungen gebündelt werden, verdichten sich die Klangmassen gern zum Dickicht.

Dieses durchdringen Singstimmen nur in Ausnahmefällen. Oder der Dirigent macht sich die Mühe nachzuprüfen, wie oft der Komponist seine symphonischen Streiter durch präzise dynamische Vorschriften zu disziplinieren versucht. In der Tat steht sehr häufig pianissimo in den Noten. Aber in der Hitze des Gefechts übersieht man das gern.

In Paris kann man es jetzt hören. Wer zu „Elektra“ fährt, um die gewohnten gewaltigen Klangentladungen zu erleben, wird von dieser Aufführung wahrscheinlich enttäuscht sein. Wer zuzuhören versteht, erlebt das Werk allerdings ganz neu und als das, was es nach der Analyse vieler Opernhistoriker sein soll: ein feinsinnig-analytisches psychologisches Musiktheaterexperiment, in dem jede kleinste Regung ihre instrumentale Entsprechung erhält.

Jordan ziseliert sie mit dem exzellenten Pariser Orchester minuziös, die größten Ungeheuerlichkeiten werden da geflüstert, geraunt, gezischelt. Nervöse Spannung stellt sich auf diese Weise ein, treibt das Drama unausweichlich voran. Sie erzeugt jene Atmosphäre der Überspanntheit, die Hofmannsthals Antikenadaption zum Musterbeispiel eines modernen Dramas macht.

Von dessen dialogischen Errungenschaften macht Regisseur Robert Carsen allerdings gar keinen Gebrauch. Er hat sich von Michael Levine einen finsteren Hof bauen lassen, aus dem es kein Entrinnen gibt. Darin ließen sich die verqueren Verstrickungen des Mutter-Tochter-Konflikts prächtig erzählen.

Waltraud Meier im Grand Lit

Allein Carsen belässt es bei faszinierend-schönen Lichtspielen und beschäftigt einen Bewegungschor, der omnipräsent ist und aus dem Grab inmitten der Szene zunächst Agamemnons Leichnam exhumiert, danach aber alle handelnden Personen in der Versenkung verschwinden lässt, ehe Elektra wieder sanft entschlummert. Zum ekstatischen „Todestanz“ kommt es so wenig wie zu existenziellen Konfrontationen.

Sogar ein Theatervollblut wie Waltraud Meier, die auf einem Grand Lit herumgetragen wird, bleibt als Klytämnestra seltsam autistisch wie die Chrysothemis, der Ricarda Merbeth ihren blühenden Sopran schenkt. In ihrem Gesang schwingt jene schmiegsame Phrasierungskunst mit, die Philippe Jordan dem Orchester in allen Registern (bemerkenswerterweise auch im Blech) entlockt.

Irene Theorins Titelheldin müht sich ein wenig mit den Extremwerten, die Richard Strauss seiner Elektra zu bewältigen aufgibt. Immerhin singt sie, wie auch Waltraud Meier, Passagen, die gemeinhin gestrichen werden, um den Sängerinnen das „Überleben“ zu ermöglichen. Das ist bei Jordans Gangart nicht vonnöten. Das Orchester wütet ja nicht, wie gewohnt, es bettet die Singstimmen in ein vielfach verästeltes Klangnest.

Die Herren fügen sich in ihr Schicksal: Kim Begley ist der rechtschaffen knieweiche Ägisth, Evgeny Nikitin ein Orest von eminenter Statur, ein Held, der hörbar und sichtlich keine Schranken kennt und in vollem Bewusstsein seiner Kräfte sein mörderisches Handwerk aufnimmt.

Gut die gesamte Komparserie, jubelnd das Publikum. Am 20. November wird France musique die Vorstellung live übertragen (20h). Strauss-Kenner sollten das gehört haben – Bilder können sie sich dazu imaginieren. Vielleicht sogar passendere, als Robert Carsen sie in Paris gestellt hat. (sin)

ZUR PERSON

Philippe Jordan dirigiert in Paris Verdis „Aida“ (bis 16.11.), Strauss' „Elektra“ (bis 1.12.) sowie Wagners „Tristan und Isolde“ und Mozarts „Zauberflöte“ (März/April 2014). In Wien wird der 1974 geborene Schweizer am 27. und 28.11. die Wr. Symphoniker in einem Wagner/Schumann-Programm mit Robert Holl dirigieren. Am 14./15.12. folgen Schumann (mit Rudolf Buchbinder) und Tschaikowsky.

Zu den Festwochen 2014 bringt Jordan erstmals sein Pariser Opernorchester in den Wiener Musikverein (18./19.Juni).

Im „Presse“-Musiksalon ist Jordan am 17.Juni im Gläsernen Saal des Musikvereins zu Gast.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.11.2013)

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