Musikverein und Konzerthaus: Willkommen im 20. Jahrhundert!

RSO Wien gegen Wr. Symphoniker: Lokal-Derby samt Dudamels fulminantem Dirigenten-Debüt.

Strawinskys Mutter konnte nicht pfeifen. Aber es heißt, sie habe 1938 ernsthaft an einen Versuch gedacht: Da hörte sie nämlich, ein Vierteljahrhundert nach der Uraufführung, zum ersten Mal „Le Sacre du Printemps“ – und wusch ihrem Sohn erzürnt den Kopf. Gewiss, konservativ geschulte Ohren im Publikum brauchten Jahrzehnte, um sich an die unerhörten Dissonanzen und ekstatisch-irregulären Rhythmen dieser „Bilder aus dem heidnischen Russland“ zu gewöhnen, die ihnen wie der kranke Rückfall in musikalische Barbarei erscheinen musste.

Mittlerweile gehört das faszinierende Schlüsselwerk der historischen Moderne zum Standardrepertoire – trotz oder gerade wegen der spiel- und schlagtechnischen Herausforderung an Orchester und Dirigenten. Der 24.Mai 2007 dürfte dennoch in die musikalischen Annalen Wiens eingehen: Dass an einem Abend nicht nur die Wiener Symphoniker im Konzerthaus und das Radio-Symphonieorchester Wien im Musikverein den kompletten „Sacre“ spielten, sondern auch noch die Wiener Philharmoniker immerhin dessen zweiten Teil bei ihrem Open-Air in Schönbrunn, hat es noch nicht gegeben.

Beim Konzert des RSO unter seinem Chef Bertrand de Billy lag freilich das programmatische Gewicht noch auf deutlich jüngerer Musik: Etwa auf dem Posaunenkonzert „Fairlight“ (2004) von Rolf Martinsson, mit dem der Schwede dem gleichnamigen ersten Synthesizer mit Sampling-Technik ein „analoges“ Denkmal setzt. Ein Stück, buntscheckig, lärmig, witzig und exaltiert wie mehrere Kirtage zusammen – und nur ein Solist vom Schlage Christian Lindbergs kann auf ihnen allen tanzen. Sonores Legato, kapriziöse Sprünge, brodelnde Extrem-Tiefe: Als veritablem Posaunen-Paganini steht Lindberg eine Ausdruckspalette zur Verfügung, die er auch für eigene Kompositionen nützt, etwa die von orientalisch-tänzerischem Schwung getriebene „Arabenne“ für Posaune und Streicher. Gewiss keine große Musik, die beiden Konzerte, aber im besten Sinne unterhaltsam und durch Lindbergs lockere Virtuosität mitreißend.

Und endlich „Sacre“. Gemeinsam mit Bertrand de Billy verbiss sich das RSO mit kraftstrotzender Hingabe in den Bruitismus des Werks, stellte den expressiven Ausnahmezustand eindrucksvoll über die allerletzte Präzision im Zusammenspiel. Die Wiederholung des Symphoniker-Konzertes tags darauf machte den direkten Vergleich möglich – und da entpuppte sich Gustavo Dudamel als Trumpf. Unter der souveränen Leitung des erst 26-jährigen Venezolaners war mitzuerleben, wie „Le Sacre du Printemps“ seine letzte Sprengkraft erst durch höchste Genauigkeit entfacht – und bei aller Prägnanz auch, wo's sein darf, mit Noblesse, schönem Ton, geheimnisvoller Sinnlichkeit und liebevoll modellierten Nebenstimmen prunkt.

Bubencharme und Schwesternspiel

Eine Aufführung wie aus einem Guss, eine grandiose Leistung der Wiener Symphoniker – und das fulminante Wien-Debüt eines Dirigenten, der nicht bloß über medientauglichen Bubencharme verfügt. Da war ganz vergessen, dass zuvor bei Poulencs Konzert für zwei Klaviere bei aller pointierter Akkuratesse der Zusammenhang etwas gebröckelt hatte und Katia und Marielle Labèque ihre Klavierparts in schwesterlicher Eintracht primär als „Hackordnung“ exekutierten: als Folge von in die Tasten genagelten Tönen, unterbrochen von gesäuselten Kontrasten – wenig Nuancen dazwischen.

Kein Zweifel: Wiens Musikleben ist mit diesem symbolhaften Tag im 20. Jahrhundert angekommen. Bravo, weiter so! Dass mittlerweile längst das 21. angebrochen ist, steht freilich auf einem anderen Blatt. wawe

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.05.2007)

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