Die Revolution kommt reichlich spät

"Boris Godunow". Ferruccio Furlanetto in einer neuen Staatsopern-Version der Mussorgsky-Oper unter Gatti.

Die jüngste Erkenntnis, die uns die Wiener Staatsoper vermittelt: „Boris Godunow“ von Modest Mussorgsky kann unglaublich langweilig sein. Die Premiere des Werks in einer eigenwilligen Mischfassung, recht schön gesungen, nett ausgestattet und musikalisch wie szenisch oberflächlich geführt, wurde zum Geduldspiel; hie und da freilich aufgelockert durch bemerkenswerte Details.

Der Komponist hatte, soweit sein musikalischer Nachlass die Bewertung zulässt, so ziemlich das Gegenteil beabsichtigt. Und zwar sowohl mit der Urfassung seiner Oper, die ganz und gar auf das Schicksal des Zaren zugeschnitten ist, als auch mit der ausführlichen Bearbeitung, die er nach Ablehnung der ursprünglichen Partitur durch das Sankt Petersburger Marinskij-Theater erstellt hat.

In der Zweitfassung wird das Volk zum bewegt-bewegenden Gegenspieler des Titelhelden. Die jüngst erschienene kritische Neuausgabe, die Michael Rot für die Wiener Verlagsgruppe Hermann redigiert hat, lässt sämtliche Stadien der Entwicklung von „Boris Godunow“ nachvollziehen – soweit Mussorgsky selbst daran beteiligt war.

Eine illegitime Wiener „Boris“-Melange

Wer also nach dem Siegeszug der romantisierenden Version von Mussorgskys Wegbegleiter Nikolai Rimskij-Korsakow heute auf den Willen des Schöpfers des Werks zurückgehen möchte, hat die Chance, auf authentisches Material zurückzugreifen. Wenigstens zwei legitime Fassungen lassen sich hiebei unterscheiden – von der zweiten, ausführlicheren könnten Interpreten auch noch spannende Varianten rekonstruieren.

Die Staatsoper hat sich entschieden, aus all diesen legitimen Möglichkeiten eine völlig neue „Boris“-Version zu destillieren. Und die darf man schlicht illegitim nennen. Vor allem im zentralen Kreml-Bild springt man sieben Mal unvermittelt zwischen den beiden Originalversionen hin und her. Überdies restituiert man im letzten Akt die Szene vor der Basilius-Kathedrale, die Mussorgsky in der Zweitfassung durch das wilde Revolutionsbild ersetzt hat. Dieses spielt man aber auch. Dergleichen war zu Sowjetzeiten in Moskau üblich – ob das als Begründung für die Ausdehnung dieses Wiener Opernabends auf Überlänge ausreicht, bleibe dahingestellt.

Erschwerend kommt hinzu, dass Yannis Kokkos in seinen schlichten Bildern kaum zu konsistenter, gar packender Personenführung findet. Selbst der Fürst Schujski von Jorma Silvasti wird um jegliches Intrigenpotenzial betrogen, aus dem diese Figur sonst in jedem Fall schöpft.

An prägnanteren Persönlichkeiten wie Robert Holls samtweich tönendem Mönch Pimen oder Adrian Eröds wie eine bleiche Dostojewski-Figur durchs Puschkin-Ambiente wandelndem Schtschelkalow fließen die musikalischen Linien des Orchesters beziehungslos vorbei – oder überschwemmen sie schlicht mit undurchdringlich massierter Lautstärke, die zu Zeiten sogar dem Chor ziemlich zusetzt. Der setzt sich daraufhin im Revolutionsbild vor allem durch unterschiedliche rhythmische Schwerpunktsetzungen von den Musikerkollegen ab.

Eine gewisse Großzügigkeit ist dem Dirigenten Daniele Gatti insgesamt nicht abzusprechen. Er lässt Crescendi gern rasch ausufern, was die machtvolle Entfaltung großer Steigerungen dann kaum mehr zulässt. Andererseits driften ihm die kargen Linien, mit denen Mussorgsky Stimmungen malt, oft haltlos auseinander.

Schöngesang für Zynismus und Leid

Hie und da, im Polen-Akt vor allem, aber auch als Begleiter der Monologe des Titelhelden, spielen die Philharmoniker dann aber doch sinnlich differenzierte Klangspiele, inspiriert von der modernen Orchestrierungstechnik des Komponisten, die mehr als einmal auf Janáceks Trennschärfe vorausweist. Nadia Krastevas wohltimbrierter Mezzo und Marian Talabas eher eindimensionaler Tenor können dann rechtschaffen lyrisch die zynischste aller Opernliebesgeschichten simulieren; und Ferruccio Furlanettos Boris liefert seine recht eigene Deutung des Zarenschicksals, vor allem auf Schöngesang gebaut, weit weniger dämonisch als sämtliche Vorgänger, ein armer, höchst liebenswerter Kerl, zuletzt.

Am meisten Profil gewinnen Nebenfiguren wie der seit Jahr und Tag grandiose Gottesnarr von Heinz Zednik oder auch der Polizeihauptmann des Alfred Sramek, der bei seinem kurzen Auftritt sogleich raumgreifend agiert und damit das zahnlose Regieumfeld geradezu in einem Handstreich desavouiert.

Falk Struckmanns Studie des heuchlerischen Jesuiten Rangoni gehört – wie der tapsige Warlaam Ain Angers – noch auf die Habenseite dieser offenbar mehrheitlich von Eigeninitiative der Darsteller profitierenden Produktion. Michaela Selingers und Laura Tatulescus Zarenkinder sind samt ihrer Amme, Margareta Hintermeier, hingegen kaum zu vernehmen. Janina Baechle darf das nachkomponierte Lied der Schenkenwirtin dem Mosaikcharakter der neuen Wiener Fassung zum Trotz nicht singen. Warum? Das ist eines der Rätsel dieser Premierensphinx, die man auch nach wackerem Absitzen des Abends nicht gelöst hat.

Bleibt abzuwarten, welche bedeutenden Interpreten in der künftigen Aufführungsgeschichte von „Boris Godunow“ die Spezialversion Marke Kokkos/Gatti zu lernen gewillt sein werden. Etwas müder, doch freundlicher Applaus dankte den Pionieren.

TERMINE: Juni, Dezember

Nach fast 13 Jahren ist Mussorgskys „musikalisches Volksdrama“ über den russischen Regenten und Zaren Boris Godunow erstmals wieder an der Staatsoper zu sehen: noch am 1., 5., 9., 13., 17.Juni, weitere Termine im Dezember.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.05.2007)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.