Eine "Winterreise" an unsere Grenzen

Markus Hinterhäuser
Markus Hinterhäuser (c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Intendant Hinterhäuser spielt, Matthias Goerne singt, William Kentridge malt Schuberts "Winterreise". Diese Lieder fand der Komponist selbst "schauerlich" – und wenn wir wirklich zuhören, schaudert's uns auch.

Puristen werden ob der Ankündigung nervös, Naturkundler fragen nach, warum man die „Winterreise“ im Frühling spielt. Und insgesamt lässt sich vermuten, dass, wie so viele vermeintlich „bekannte Größen“, auch diese in Wahrheit unbekannt geblieben ist. Der berühmteste aller Liederzyklen, ja. Aber was wissen wir von der „Winterreise“?

Franz Schubert selbst blieb doch eine „unbekannte Größe“. Jedenfalls war er's zu seinen Lebzeiten. Andernfalls hätte er Opern komponieren müssen. Musik, wie er sie schrieb, die spielte man daheim, in geselligen Zirkeln. Damit wird man nicht berühmt.


Scheitern an der Größe.
Schubert hatte freilich Visionen. Opern wollte er schreiben, doch es misslang. Er wollte auch – lange bevor Beethoven mit der Neunten zeigte, wie man ererbte Formen sprengt – Symphonie, Sonate, Streichquartett in sein, ins 19. Jahrhundert katapultieren. Die Aufbrüche sind ihm samt und sonders misslungen; zumindest, soweit die Zeitgenossen sie kennenlernen konnten.

Große Entwürfe, auf halbem Wege abgebrochen. Halbe Oratorien, ein Viertel Streichquartett, 1824 endlich ein ganzes Quartett – ein Variationensatz über das Lied „Der Tod und das Mädchen“ inmitten. Es kommt nur zu einer einzigen Aufführung...

Dabei will sich der Komponist auf diese Weise „den Weg zur großen Symphonie bahnen“. Eine in C-Dur gelingt prächtig, aber sie bleibt ungespielt. Zwei ehrgeizig umfangreiche Sätze einer Symphonie in h-Moll kommen erst vier Jahrzehnte später ans Licht. Diese „Unvollendete“ wird sofort zum Kultstück. Aber das ist 1865, der Komponist seit Jahrzehnten tot. Der Schubert-Hype ist längst ausgebrochen. Er hat mit allem Möglichen zu tun, nur nicht mit der Realität.

Schuberts Realität. Seine Opern will keiner hören. Also dreht er den Spieß um. Musiktheater, ja, aber eines, das die Dimensionen in Richtung Gesamtkunstwerk weitet. Nicht nach außen, wie sich das 50 Jahre später in Bayreuth manifestieren wird. Nach innen vielmehr. Schubert lotet in die labyrinthischen Welten, die noch einmal, ein Vierteljahrhundert später, ein anderer Wiener in einer „Traumdeutung“ in Worte zu fassen sucht.

Der Weg nach innen.
Schubert hat es leichter als Sigmund Freud. Er gehört – mit Mozart – zu den wahren Erfindern der psychologischen Wissenschaft. Wie Mozart steht ihm auch das rechte Vokabular zu Gebote: Musik. Zur Analyse wählt er Wilhelm Müllers „Winterreise“. Sie führt ihn in eine musikalische Richtung, zielsicher dem Publikumsgeschmack entgegengesetzt.

Die Nachwelt beschließt aber, nicht den ganzen Schubert nehmen zu wollen, wie er war. Sie hört die schönen Melodien quasi isoliert von dem, was sie umgibt. Sie macht den Meister zum Klassik-Maskottchen, setzt ihn als Schmusetier auf den Kopfpolster im Dreimäderlhaus.

Gerade in der „Winterreise“ hätten Schubert-Verehrer das Gegengift gegen jegliche Verkitschung finden können. Aber man wusste Rat: Ein hintergründiges Lied wie der „Lindenbaum“ wird mit Brachialgewalt simplifiziert. „Zu einer Volksmelodie umgearbeitet von Friedrich Silcher“, lautet die gefährliche Drohung auf der Erstausgabe von „Am Brunnen vor dem Tore“.

Die Musik wird reduziert auf die Melodie der ersten Strophe. Von den bitteren Erfahrungen des eisigen Windes, der dem Wanderer in Schuberts Vertonung hörbar den Hut vom Kopfe bläst, ist nichts mehr hören.

Kunstkastration. Es ist eine Art Kunstkastration, die da vorgenommen wurde. Statt Oper liefert der Meister Lieder – und diese marginalisiert die Nachwelt noch gründlich, retuschiert jeglichen Anflug jener Schaurigkeit weg, die Schubert meinte, als er seine Freunde zur Soiree bei Freund Schober bat: „Ich werde euch eine Gruppe schauerlicher Lieder vorsingen.“

Februar 1827. Die „Winterreise“ umfasste die Lieder eins bis zwölf, wie sie als Gedichtreihe in der „Urania für 1823“ zu finden waren. Selbst Dichter Wilhelm Müller hielt die Serie zunächst für abgeschlossen. Er hat sich's später anders überlegt.

Als Schubert seine „schauerlichen Lieder“ vorträgt, sind zwölf weitere Gedichte Müllers längst erschienen. Aber der Komponist entdeckt die Fortsetzung erst, als er die erste Zwölfergruppe schon seinem Verleger verkauft hat. So komponiert er den zweiten Band – Flickwerk also? Doch ein Ganzes. Denn Müller und Schubert sind weiter marschiert in die einmal eingeschlagene Richtung. Dass aus der dieserart komplettierten „Winterreise“ einst eine mutimediale Show werden könnte, hätten sich beide so wenig träumen lassen wie eine Aufführung aller 24 Lieder durch Opernsänger in großen Sälen. Musikverein? Festspielhaus?

Wir haben uns daran gewöhnt. Und doch handelt es sich um eine Pervertierung – zumindest gemessen an den Bedingungen der Uraufführung, die dem Komponisten selbst wohl stimmig vorkamen: Einige Freunde scharen sich ums Klavier, er selbst trägt mir rauer Stimme die „schauerlichen Lieder“ vor. Malen wir uns die Szene weiter aus: Man diskutiert hernach heftig. Die Gesänge scheinen den Zeitzeugen, wenn schon nicht „schauerlich“, so zumindest ungewöhnlich herb. Freund Schober gibt zu, ihm habe nur eines der Lieder gefallen. Welches? Natürlich der „Lindenbaum“. Ahnt er das Potenzial, das sich hier für Arrangeure wie Friedrich Silcher verbirgt?

Politik im Biedermeier. Doch in den Salons des Biedermeier wurde auch Brisanteres diskutiert. Thema der Unterhandlungen war wohl auch der Dichter der „Winterreise“, Wilhelm Müller, als „Griechen-Müller“ zu Berühmtheit gelangt. (Sohn Max, Jahrgang 1823, wird noch berühmter. Als Sanskritforscher schreibt er Bücher, die noch heute als richtungsweisend gelten, und prägt das Wort „Arier“ für eine indogermanische Sprachengruppe...)

Wilhelm Müller hingegen agitiert mit seinen poetischen Mitteln für den griechischen Freiheitskampf. Wie hatte doch der Münchner Philosophieprofessor Friedrich Thiersch so richtig gemeint? Gegen die „Türkenwuth“ und „Noth der Christenheit“ gebe es eine „allgemeine Verpflichtung, auf jede Art zu helfen“.

Müller hilft: „Sie haben viel geschrieben, gesungen und gesagt / Gepriesen und bewundert, beneidet und beklagt. / Die Namen unsrer Väter, sie sind von schönem Klang, / Sie passen allen Völkern in ihren Lobgesang. / Und wer erglühen wollte für Freiheit, Ehr' und Ruhm, / Der hole sich das Feuer aus unserm Altertum.“

Freiheit, die Schubert meint.
In der biedermeierlichen Scheinidylle gilt der Kampf um die „Wiege der europäischen Kultur“ auch als Metapher für den Kampf um die eigene Freiheit. Das ist jedoch seit der Restauration nach den napoleonischen Kriegen – Müller hat auf preußischer Seite gegen die Franzosen gekämpft, in Lützen, Bautzen, Hanau und Kulm – eine Angelegenheit fürs stille Kämmerlein.

Die Zensur wacht. Über Freiheit spricht man nur hinter vorgehaltener Hand. Ein Biedermeier-Problem? Metternich? Vielleicht dürfen wir an dieser Stelle fragen, worüber beispielsweise im Wohnzimmer der Rechtsanwaltsfamilie Kentridge im südafrikanischen Johannesburg in Zeiten der Apartheid gesprochen wurde?

In den Wiener Biedermeier-Runden wurden zwischendurch schon auch einmal „schauerliche Lieder“ vorgetragen. Politisch war in gewissem Sinne auch das: In dieser Musik ließ (und lässt) sich ja ein Freiheitskampf der andern Art entdecken.

Einer, der wie Schuberts eigentümliches Intim-Operntheater als Ganzes nach innen gerichtet ist. 1822 hat Schubert seine ersten Wilhelm-Müller-Vertonungen abgeschlossen, „Die schöne Müllerin“. Sie enthielt schon manch „Schauerliches“. Etwa den Selbstmord des unglücklich Verliebten, mit dem die Geschichte schließt.

„Baches Wiegenlied“ – kann Suizid eine tröstliche Komponente haben? Die Musik scheint das zu suggerieren: „Woget und wieget den Knaben mir ein“ – Verehrer C. G. Jungs sprechen angesichts solcher Sprachbilder gern von der menschlichen Sehnsucht, in den Mutterschoß zurückzukehren.

Eine Rückkehr. Schuberts Klangtheater als Reise zu den Wurzeln. Ein Sich-Verlieren. Eines von Müllers Gedichten, die Schubert nicht vertont hat, erzählt: „Weißt du, in welchem Garten/ Blümlein Vergissmein steht? / Das Blümlein muss ich suchen, / Wie auch die Straße geht.“

„Wie auch die Straße geht“, sie führt dann auch den „Winterreisenden“. Zur selben Zeit dichtet Schubert selbst ein „Gebet“, darin spricht er von „meines Lebens Martergang“.

Syphilis. Seit 1822 weiß er um sein Leiden. Erst in einem Brief an Leopold Kupelwieser im Jänner 1824 beichtet er. Doch für die Freunde, die dann zum Teil keine mehr sein wollen, ist die Krankheit längst offenkundig. Sie ziehen sich zurück. Diese Erfahrung, mehr noch als die Krankheit selbst, bedeutet wohl den „Martergang“: „Habe ja doch nichts begangen, dass ich Menschen sollte scheun“, heißt es im „Wegweiser“, der 20. Station des „Winterreisen“-Kreuzwegs.

Musik als Therapie. Schubert-Biografen versichern einhellig: Mit Musik richtet sich Schubert wieder auf. Lieder über Schmerz, Leid, die Erkenntnis der „ewigen Wanderschaft“, sie tun ihre kathartische Wirkung. Deshalb muss der Weg ja begangen werden. „Eine Straße muss ich gehen, die noch keiner ging zurück“ – das ist auch das Programm für den Weg des Künstlers in den sprichwörtlichen Elfenbeinturm.

Nicht von ungefähr tönt der Satz wie ein sanfter Auftakt zu Arnold Schönbergs legendärem Wort: „Einer hat's tun müssen, keiner hat's tun wollen, so hab' ich mich dafür hergegeben.“ Für den Weg in die Moderne. Denn „Kunst kommt von Müssen“.

Dieses Bewusstsein schonungsloser künstlerischer Ehrlichkeit zwingt uns vermutlich ewig zur „Winterreise“ zurück, zu diesem Klangtheater, das immer neue Bühnenbilder erhält – in unserer Fantasie, und hie und da auch in der Bühnenrealität der Festwochen, Halle E (ab 9. Juni)...

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.06.2014)

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