Dieser Kapellmeister der ganzen Welt

Giuseppe Verdi: Messa da Requiem
Giuseppe Verdi: Messa da RequiemORF
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Herbert von Karajan starb vor 25 Jahren. Den Namen kannten auch Menschen, die nie ein Opernhaus von innen gesehen hatten. Er war das Synonym für klassische Musik!

Wenn wir das am Abend spielen sollen, dann müssen wir jetzt aufhören. Die Lippen schaffen das sonst nicht!“ – Ein hörbar enervierter Blechbläser der Wiener Philharmoniker wagt den Vorstoß. Doch der Maestro lässt sich nicht irritieren: „Das muss doch möglich sein, dass das einmal so klingt, wie ich mir das vorstelle...“

New York, Februar 1989. Herbert von Karajan und das Orchester sind auf Gastspielreise. Man probt in der Carnegie Hall Bruckners Achte. Oder, genau genommen: Man probt einige wenige Takte aus dieser Symphonie. Das Werk hat man oft und oft miteinander musiziert, im Wiener Musikverein, im Salzburger Festspielhaus, auf Tourneen. Die Musiker, die diesmal mitreisen, haben alle erst im Orchester zu spielen begonnen, als dieser Dirigent längst eine lebende Legende war, für viele Menschen das Synonym für klassische Musik schlechthin.

Der Orchesterpsychologe.
Man weiß, was Karajan von seinen Orchestern verlangt, man kennt jeden Winkel seiner Bruckner-Interpretation. Und es sind tatsächlich nur einige wenige neuralgische Punkte in der symphonischen Riesen-Architektur, die Karajan vor der Aufführung in New York noch einmal hören will.

Unter anderem ist es der Schluss, der ihm nicht strahlend, nicht hymnisch genug tönen kann – und, keine Frage, er wird Hörnern, Trompeten und Posaunen am Abend noch viel strahlender über die Lippen kommen als am Vormittag, an dem man sich schon überstrapaziert wähnt.

Karajan – vor allem ein Psychologe, der seine Musiker beim Ehrgeiz packt: Das kann ja wirklich nicht sein, dass man nicht imstande sein sollte, das so zu blasen, wie er sich das vorstellt...

Dann ist da noch der Anfang des Adagios, ein schwebender, synkopisch rhythmisierter Des-Dur-Akkord in den Streichern. Nichts sonst von den großen Atemzügen, die hier in 25-minütiger Entwicklung zu einem atemberaubenden Höhepunkt führen, will Karajan hören bei dieser Probe. Aber dieser Anfang! Viel zu laut! Nach der dritten diesbezüglichen Anweisung erhebt sich in der Mitte des Parketts ein staunender Zaungast: Seiji Ozawa legt seine Studienpartitur zur Seite und scheint seinen Ohren nicht zu trauen. Da kamen wirklich nur noch beinah unhörbare, aber ungemein intensive Schalldruckwellen. Über einer solchen „Ahnung von Des-Dur“, in sich kaum merklich bewegt, kann sich die Geigenmelodie erheben.

Auch das zählt am Abend dann zu jenen unvergesslichen Eindrücken. Karajan, der Organisator des Unmöglichen. Der längstdienende New Yorker Musikkritiker meint zuletzt zu einem jungen Kollegen: „Vielleicht werden Sie nie wieder ein Orchester so spielen hören. Aber jetzt wissen Sie, dass es möglich ist.“

Vielleicht hat man tatsächlich nie wieder ein Orchester so spielen gehört. Für Karajan war dergleichen eine Frage des Handwerks. Man war weit gekommen in all den Jahren der gemeinsamen Arbeit. Eine Generation von Musikern hat den „Karajan-Klang“, Ergebnis dieser Arbeitsprozesse, an die nächste weitergegeben; und jedesmal konnte der Handwerker an einem höheren Punkt der Skala beginnen, konnte noch mehr einfordern.

Es ging, man glaubte es kaum, noch präziser, es ging noch intensiver, noch brillanter, noch weicher, noch durchsichtiger; immer noch, noch, noch...

Und weil man sich mit vielem, was schon ganz selbstverständlich geworden war, nicht mehr aufhalten musste, konnte man an den heikelsten Passagen akribisch feilen.

Das Rätsel des Übergangs.
Die Kunst fein austarierter Übergänge war so etwas, das als bezeichnend für Karajans Klangsinn galt. Sie war ein Erbstück. Zumindest gab Karajan sie dafür aus, als er erstmals als frisch gekürter Chefdirigent auf Lebenszeit vor den Berliner Philharmonikern stand. In einer kurzen Ansprache vor Beginn der ersten gemeinsamen Reise – sie führte in die USA, unter anderem, wie die letzte Reise, 1989, nach New York – versicherte Karajan dem Orchester, das seines werden sollte, es gelte, das Erbe seines Vorgängers Wilhelm Furtwängler zu bewahren.

Vor allem jene unvergleichlichen Momente, in denen sich Verwandlungen ereignet hätten – von einem Abschnitt der Musik in den nächsten – Momente, in denen man nicht wusste, ob etwas schon vorbei sei, etwas anderes bereits begonnen habe.

Furtwänglers Mysterien.
Er sprach da von Mysterien, vom Unsagbarem, etwa von der Überleitung, die in Robert Schumanns Vierter Symphonie vom Scherzo ins Finale führt. Hört man die Plattenaufnahme, die Karajan knapp zwei Jahre nach seiner Amtsübernahme in Berlin gemacht hat, ahnt man: Hier ist viel von Furtwänglers Geist erhalten geblieben, verwandelt durch den Willen eines jüngeren Mannes, der vor allem davon besessen war, Unfassbares fassbar zu machen.

Furtwänglers Studioaufnahme der Vierten Schumann verrät übrigens wenig vom Faszinosum der geschilderten Übergangspassage. Furtwängler war ein Phänomen, das man im Konzertsaal erleben musste, um es ganz begreifen und würdigen zu können. Karajan aber gelang es, den Zauber dieses „Gibt es kein Hinüber?“, von dem Hofmannsthal seine Ariadne singen lässt, auf Tonband zu bannen!

Das hat ihn zum Maestro des Technikzeitalters werden lassen. Die besten seiner unzähligen Aufnahmen verraten auch der nachgeborenen Generation, worauf der Mythos Karajan beruht hat. Einspielungen wie jene von Arnold Schönbergs „Verklärter Nacht“ sind bis heute sogar gefährlich! Welch ein himmelhoher Unterschied zwischen der klanglichen und spieltechnischen Vollendung, die von den Berliner Streichern hier erreicht wurde, und dem, was den Nachfolgern heutzutage im allerbesten Fall gelingt; der Vergleich, der so nahe liegt, ist niederschmetternd.

Eine gewisse Parallele ergibt sich bei der Betrachtung solch unerklärlicher Spitzenleistungen mit dem gleichzeitig amtierenden Jewgeni Mrawinski und dessen St. Petersburger (damals natürlich Leningrader) Philharmonikern. Auch dort wurden beispielsweise Tschaikowsky-Symphonien noch vor der 101. Aufführung ausgiebig probiert.

Solch fanatischen Arbeitsaufwand hatte Karajan von den Italienern gelernt. Von Arturo Toscanini und Victor de Sabata – man sollte Letzteren wenigsten in diesem Zusammenhang nie vergessen. Karajan pflegte diesen Aufwand, wie Mrawinski, auch in seinem Kernrepertoire, bei viel gespielten Symphonien, bei Beethoven und Brahms, bei Tschaikowsky und Dvořák.

Er nahm sich jedoch mit derselben Akribie auch neuer Stücke an. Uraufführungen dirigierte Karajan ja viel öfter als die Fama wahrhaben will. Von Hans Werner Henze gibt es einen halb zynischen, halb bewundernden Probenbericht: Karajan hatte Werke des jungen deutschen Vorzeigemodernen in das Programm genommen und arbeitete an jedem Detail. Henze musste auf einem Sessel zwischen Dirigent und Konzertmeister Platz nehmen, um jeden Aspekt der Phrasierung, der klanglichen Feinabstimmung sofort zu kommentieren.

Essenziell für Karajans künstlerische Persönlichkeit war nebst psychologischem Einfühlungsvermögen sein handwerkliches Können. Er war, nehmt alles nur in allem, ein hervorragender Kapellmeister. Das Wort hat keinen guten Klang. Doch kommt es nicht von ungefähr, dass Christian Thielemann, der Meistadorierte in der aktuellen Dirigentenriege, der einst Karajans Assistent war, diese Berufsbezeichnung der eines Maestro vorzieht. Ein Kapellmeister, das ist einer, der von der Pike auf gelernt hat, mit Solisten und den Gruppen eines Opern-Unternehmens umzugehen, sie zu führen, sie zu künstlerischen Höchstleistungen anzuspornen.

All das ist mit dem Wort Dirigent nur unzureichend umschrieben. Die Italiener wissen das und nennen den Mann am Pult korrekt Maestro concertatore e direttore d'orchestra.

Genau das war Karajan: der, der alle und alles zusammenführt und lenkt. Dorthin lenkt, wo er sie haben will. Um das zu können, muss man zunächst Etappensiege verbuchen. Das geht nicht auf einmal. Zuallererst muss man nach genauem Studium der Partituren wissen, was man will. Schon dieses Grundgefühl vermisst man bei den meisten jüngeren Vertretern der Zunft.

Musikalische Seelenkunde. Bei Karajan war stets vom ersten Augenblick an klar, was ihm vorschwebte – die Suggestivkraft seiner Bewegungen, seine Aura vermittelten jedenfalls eines: Sicherheit. Sie ist nötig, um im Gegenzug die größtmögliche Freiheit des Musizierens zu erreichen. Peter Schmidl, langjähriger Soloklarinettist der Wiener Philharmoniker, berichtet: „Wenn er wusste, dass man ein heikles Solo zu spielen hatte, dann hat er einen vielleicht ein, zwei Minuten vorher angeschaut: Wenn er gesehen hat, man war konzentriert, hat er sich nicht mehr gekümmert. Er wusste: Es klappt.“

Musikalische Seelenkunde: Im Moment der äußersten Anspannung muss der Solist sich des vollsten Vertrauens sicher sein. Vergleichbares berichten auch Sänger. Von keinem Dirigenten fühlten sie sich so getragen, mit keinem so sicher. Der Weg, der Karajan so souverän werden ließ, führte über die deutsche Provinz an die großen Häuser: Ulm, Aachen, dann erst Berlin. So lautete der Fahrplan.

„Ich habe in Ulm immer zwei Orchester dirigiert“, bekannte Karajan, „jenes, das ich hören wollte, und jenes, das ich tatsächlich gehört habe.“ Dazwischen klaffte ein Graben. Diesen Graben zuzuschütten, das war das Programm seines Künstlerlebens. Es sollte „einmal so klingen, wie ich es mir vorstelle“. Im Februar 1989 war der Graben also noch nicht überwunden.

Nicht ganz, jedenfalls – und doch ist man dankbar für das Maß an Vollkommenheit, das in vielen Fällen auf dem Weg von hüben nach drüben erreicht wurde. Ab einem gewissen Punkt seiner Laufbahn war Karajan fasziniert von der Idee, zu dokumentieren, wie er mit seinen Musikern den Graben zu überwinden versuchte.

Ihr verdanken wir eine lange Liste von Ton- und Videoaufnahmen, an deren endgültigen Versionen er fanatisch bis in seine letzten Lebenstage arbeitete. In seinem Haus in Anif verfügte er über einen Videoschnittplatz, der über die modernsten Schikanen der Technik gebot. Diesbezüglich immer auf dem letzten Stand zu sein, war sein Ehrgeiz. Er, der Anfang der Achtzigerjahre den Umstieg auf die Digitaltechnik propagierte, wäre entsetzt, würde er sehen, dass die Plattenlabels das, was er „sein Erbe“ nannte, nach wie vor mit Mitteln verwalten, die ein Vierteljahrhundert alt sind.

Wenn es nach ihm ginge, stünde längst alles, was es zu hören gibt, in bestmöglicher Klangqualität im Netz. Und das gewinnbringend! Alle Welt könnte hören, wie das ist mit der Differenz zwischen Idealvorstellung und Realität. Und: ob man noch herüben oder schon drüben angelangt ist – diese Frage immer wieder zu stellen, darauf kommt es doch schließlich an.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.07.2014)

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