Leo Hussain: „Die tonalen Schockwirkungen sind von Gluck so komponiert!“

PROBE NEUJAHRSKONZERT 2012
PROBE NEUJAHRSKONZERT 2012(c) APA/HERBERT PFARRHOFER (HERBERT PFARRHOFER)
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Ab heute spielt das Theater an der Wien die beiden Iphigenien-Opern von Gluck quasi gleichzeitig. Dirigent Leo Hussain erklärt, wieso und wie so etwas funktionieren kann.

„Iphigenie en Aulide et Tauride“ steht auf dem Plakat. Zwei Opern von Christoph Willibald Gluck, die einzeln im Haus bereits zu erleben waren, spielt das Theater an der Wien nun quasi gleichzeitig. Als wollte man dem verrückten Traum von Hofmannsthals Molière-Figur in der „Ariadne auf Naxos“ nacheifern: zwei Stücke, miteinander verschränkt. Regiert da der schiere Mutwille?

Der „Pasticcio“-Gedanke war Glucks Ära nicht fremd. Anders, als würde man versuchen, Wagners „Siegfried“ und „Götterdämmerung“ zu einem „Siegfried“-Drama zu vermengen, müssen in diesem Fall nicht die Alarmglocken schrillen. „Wir haben lange geredet und viel experimentiert“, erzählt Dirigent Leo Hussain, „wir hatten verrückte Pläne, eine Arie von hier, ein Ensemble von da, aber die Lösungen, die wir da fanden, haben uns nicht immer befriedigt. Oft ist es nämlich so: Man probiert eine Szenenfolge aus, die dramaturgisch gut funktioniert, aber dann passen die Tonarten gar nicht zueinander; oder es steht – im Gegenteil – plötzlich 20 Minuten lang alles in F-Dur...“

Was die Kunst der Dramaturgie betrifft, muss man einem Musiktheatergenie wie Gluck – namentlich, wenn es sich um Stücke aus dessen Spätwerk handelt, mit dem er ja anerkanntermaßen die Musiktheaterwelt reformiert hat – nicht viel dreinreden. „Von einigen Sprüngen abgesehen, beginnen wir natürlich chronologisch richtig in Aulis und schließen in Tauris“, sagt Hussain.

Der radikalste Moment der kombinierten Aufführung ereignet sich im Übergang von einem Stück zum andern: „Da gibt es eine Dacapo-Arie, deren Wiederholung wir streichen, um direkt in den großen Sturm der tauridischen Iphigenie überzugehen. Das ist ein durchaus beabsichtigter Schock“, sagt Hussain, der beim Studium der beiden Partituren vor allem die von Gluck komponierten Schocks und Überraschungsmomente lieben gelernt hat: „Natürlich gibt es herrliche Arien und große Szenen, aber das Faszinierendste sind die großen Accompagnato-Rezitative“, also Rezitative, die vom gesamten Orchester begleitet, sozusagen „kommentiert“ werden.

Solche Momente nehmen erstaunlich viel von wenig später entstandenen Mozart-Werken vorweg. Mozart hat ja seinen Gluck gut gekannt: „Man hört in den Iphigenien viel ,Don Giovanni‘ und ,Zauberflöte‘“, meint Hussain, für den nach vielen Mozart-Abenden – u.a. als Chefdirigent am Landestheater Salzburg – die Premiere am Donnerstag die erste Gluck-Erfahrung darstellt. Sein erstaunliches Fazit: „Nach dem Studium von Gluck wächst auch der Respekt vor Mozart enorm!“

Jedenfalls schien die Rechnung aufzugehen: Das entstandene neue Drama, in dem sich die aulidische Iphigenie auf Tauris in der Gestalt der Göttin Diana wiederfindet, wirkt ganz harmonisch. Auch mit der Übereinstimmung der Tonarten ist Hussein zufrieden: „Die tonalen Brüche, die man hören wird, sind nicht durch unsere Flickarbeit entstanden, sondern von Gluck so komponiert!“

„Unsere klassische Iphigenie mit seiner gelehrten Musik überschüttet“, so lässt Richard Strauss in seinem „Capriccio“ die Pariser Gesellschaft über Gluck urteilen. Von der Bedeutung der Gluck'schen Reformen war auch er überzeugt – doch er hielt die Iphigenie-Vertonungen nur in romantischen Bearbeitungen für überlebensfähig: Wagner hat „Iphigenie in Aulis“ umgearbeitet, Strauss selbst „Iphigenie in Tauris“ – und den „Idomeneo“ von Mozart, womit, seine eigene „Elektra“ eingerechnet, eine Atriden-Tetralogie zur Verfügung stünde, die mit Strauss' „Ägyptischer Helena“ sogar zur Fünfteiligkeit ausgeweitet werden könnte...

Die Symphoniker hören den Sängern zu

Für heutigen Geschmack gehen die Wagner- bzw. Strauss-Arrangements freilich viel zu weit. Die Gluck-Bearbeitung anno 2014 bleibt in Instrumentation und Klangstil den jüngsten historischen Erkenntnissen verpflichtet. Hussain erarbeitet das „Iphigenien-Pasticcio“ im Theater an der Wien, wo er die Produktionsbedingungen für „schlichtweg ideal“ hält, mit den Wiener Symphonikern. Über deren musikantisches Potenzial ist er glücklich: „Bei den Arien merkt man, wie wunderbar dieses Konzertorchester auch mit Sängern musiziert, wie die Spieler zuhören und reagieren.“ Noch größer muss die Reaktionsgeschwindigkeit in den orchesterbegleiteten Rezitativen, die die Handlung tragen, sein. „Da muss man die Situation erfassen und Abend für Abend entsprechend handeln: Viele Dinge kann man nicht ein für alle Mal bei den Proben regeln. Wichtig ist, dass die Sänger das Gefühl haben, sie können die Szene frei gestalten. Sonst wirken die Rezitative tot.“ In Wahrheit bilden sie den Kern des Dramas.

ZUR PERSON

Leo Hussain, 1978 geboren, studierte in Cambridge. Er war von 2009 bis 2014 Musikdirektor am Salzburger Landestheater, demnächst beginnt er als Generalmusikdirektor der Opéra de Rouen Haute Normandie. Am Theater an der Wien wird er im Mai Milhauds „La mère coupable“ dirigieren. [ Archiv ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.10.2014)

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