Kontraste, Schocks und zartes Klingeln

(c) EPA (STEPHEN CHERNIN)
  • Drucken

Das RSO Wien eröffnete seinen Konzerthaus-Zyklus u.a. mit verstörendem Haydn und aufrüttelndem Schönberg.

Plötzlich schlägt die Erzählung um in grauenerregende, aber zugleich auch erhabene und erhebende Gegenwart: Es ist ein Moment von bestürzender musikalischer Wirkung, wenn schließlich der Männerchor einsetzt – und also die zur Gaskammer getriebenen Juden, als folgten sie einem inneren Kommando, ihr Glaubensbekenntnis „Sch'ma Israel“ anstimmen. Wie durch ein Fenster in der Zeit werden wir auf einmal Zeugen, erleben das unsägliche Verbrechen und auch so etwas wie dessen ideelle Überwindung gleichermaßen mit. Mit Arnold Schönbergs „A Survivor from Warsaw“ beschloss das ORF-Radio-Symphonieorchester Wien unter Cornelius Meister den Eröffnungsabend seines Saisonzyklus – und hatte in den Herren der Wiener Singakademie klar und kräftig tönende Mitstreiter.

Den tiefsten Eindruck aber hinterließ Thomas Quasthoff, der dem Konzertpodium gottlob über das Ende seiner Gesangskarriere hinaus treu bleibt. Zum einen verlieh er den auf Deutsch gehaltenen Nazi-Kommandos mit Berliner Färbung eine unheimliche, quasirealistische Drastik. Zum anderen gelang es ihm, seinen Part als eine von flammendem Pathos erfüllte, künstlerisch überhöhte Rede darzustellen, indem er die für die Sprechstimme notierten relativen Tonhöhen aushielt, als wäre es Gesang – freilich ohne dabei zu singen: eine aufwühlende Meisterleistung auf schmalem Grat.

Haydn: „Tempora mutantur“

Das „sonderbar' Ding“ Zeit schien überhaupt im Mittelpunkt dieses Konzerts zu stehen, das Musik aus drei Jahrhunderten brachte. Den Beginn hat Haydns Symphonie Nr. 64 mit dem rätselhaften Titel „Tempora mutantur“ gemacht, in deren exzentrischem Largo plötzliche Generalpausen, Schockeffekte und andere Diskontinuitäten verstörend wirken: Hier hat nichts Bestand.

Nur zwei Jahre liegen zwischen Schönbergs „Survivor“ und den „Metamorphosen“ von Richard Strauss (die Cornelius Meister die RSO-Streicher fast zu süffig und opulent interpretieren ließ) – und zugleich Welten, nicht nur in der äußerlichen Divergenz zwischen Zwölftontechnik und spätromantischer Emphase.

Die Gegenwart war mit der österreichischen Erstaufführung von Johannes Maria Stauds „Oskar (Towards a Brighter Hue II)“ vertreten, einem zarten, intimen Stück für Violine, Streicher und Schlagzeug, mit der japanischen Geigerin Midori als partiturgerecht mit mikrotonalen Valeurs spielender Solistin. Immer neu ansetzende, jeweils zu kleinen Höhepunkten und Verdichtungen geführte Abschnitte delikat-farbiger, vielfach im Pianissimo gemischter Klangereignisse reihten sich zu vielgestaltigen Ketten, die als Ganzes jedoch nicht recht fesseln konnten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.10.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.