Chicago in Wien: Muti liebt es zum Anfang russisch

(c) Clemens Fabry
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Gemischte Gefühle am ersten Musikvereins-Abend: Virtuosität bei Strawinsky, Stilfragen bei Schumann.

Chicago Symphony auf Wien-Besuch. Bis Chefdirigent Riccardo Muti zu Allerheiligen und Allerseelen in die „heimatlichen“ Klanggefilde des Verdi-Requiems vordringen darf, gilt es einige Hürden zu überwinden. Nicht, was die Technik betrifft. Die Musiker sind nahezu unfehlbar und demonstrieren ihre Virtuosität mit der Suite aus Strawinskys „Feuervogel“.

Mit messerscharf geschnittenen Staccati im „Höllentanz“ des Zauberers Kastschei pflegte die weltmeisterliche Blechbläserriege vor allem Akkuratesse, im „Wiegenlied“ drehten die Holzbläser nach der Reihe ihre anmutigen Pirouetten. Oberstes Credo bleibt in Chicago aber offenkundig: Wir können, jede und jeder für sich, unglaublich viel, aber gemeinsam erobern wir die Musikwelt.

Auch das Solo-Cello oder das phänomenal weich geblasene Horn-Entrée zum Ballettfinale stechen daher niemals ungebührlich eitel aus dem großen Ganzen heraus. Letzteres gerät unter Mutis Händen freilich zuweilen etwas dick und undurchdringlich. Wo keiner bevorzugt werden soll, bleiben im allgemeinen Schönklang strukturelle Details oft unhörbar.

Bei Tschaikowskys kaum bekannter Tondichtung „Der Sturm“ fällt das den meisten Hörern nicht auf. Bei Robert Schumanns „Rheinischer Symphonie“ freilich wartet vielleicht der eine oder andere auf Finessen wie die imitatorisch geführten Holzbläserpassagen im Kopfsatz, die unter der herrlich großtönenden Violinpaste verborgen bleiben.

Das ist vielleicht nicht nur eine Frage der dynamischen Nuancierung, sondern auch eine der Phrasierung. Strawinsky hat einmal verlangt, ein Interpret möge agieren wie ein Mesner, der am Seil zieht: Wie die Glocken läuten, kann er nicht wirklich beeinflussen.

Insofern war Mutis rigide Gangart beim „Feuervogel“ wohl goldrichtig. Im Fall von Tschaikowsky-Melodien weiß man freilich, dass frühere Generationen russischer Musik – und vereinzelt auch noch aktive Künstler – flexiblere Phrasierungsvorstellungen hatten und haben, als sie die amerikanischen Gäste diesmal anzuwenden gedachten.

Und im Fall der deutschen Romantik muss man anlässlich des ersten Abends von einer Fehlanzeige sprechen. Da würde es vielleicht einmal helfen, dem einen oder anderen Thema ein Heine-Gedicht zu unterlegen und es den Musikern vorsingen zu lassen. Der Tonfall macht die Musik. Die Musiker machen zuzeiten vor allem Klang. Prächtig sogar, dass es zum Applaus reizt, wenn mangels differenzierter Artikulation vom Sinn des Getönes wenig verständlich wird. (sin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.10.2014)

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