„Chowanschtschina“: Ewiges Rätsel Russland

ARCHIVBILD: FOTOPROBE ´CHOWANSCHTSCHINA´
ARCHIVBILD: FOTOPROBE ´CHOWANSCHTSCHINA´(c) WIENER STAATSOPER/MICHAEL P�HN (MICHAEL P�HN)
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In einer statisch-bewegten Inszenierung Lev Dodins wird Modest Mussorgskis „Volksdrama“ dank einer glänzenden Sängerbesetzung und Semyon Bychkovs intensiver musikalischer Gestaltung zum packenden Ereignis.

Zuletzt gab es nach minutenlangen Ovationen doch noch etliche Buhrufe, als Regisseur Lev Dodin vor dem Vorhang erschien. Allein, der russische Theatermeister hat ein in sich völlig schlüssiges Konzept für diese „Chowanschtschina“ entworfen. In Mussorgskis Historienbildern tauchen Figuren, ja Chormassen plötzlich auf und verschwinden ebenso plötzlich wieder, unter Umständen auf Nimmerwiedersehen. Dieser eigenwilligen Dramaturgie entsprechen die – zum Teil sehr starken – Tableaus, in denen die Protagonisten auf Hebebühnen ins Rampenlicht geraten und dann wieder versinken.

Sie mögen manchem Betrachter zu statisch wirken, entsprechen aber Mussorgskis Musik, in der oft die Zeit stillzustehen scheint. Das ist auch deshalb zu respektieren, weil dort, wo Mussorgski Bewegung ins Spiel bringt, Bewegung auch auf den Ebenen des finsteren Handlungsgerüsts herrscht, das Alexander Borovskiy entworfen hat.

Unglaubliche Differenzierungskunst

Die zentrale politische Auseinandersetzung der Führerfiguren im zweiten Akt ist, wie etliche weitere Szenen, in sich reich bewegt und schlüssig erzählt. Das Bild könnte symbolträchtiger nicht sein: Sie können zueinander nicht kommen, agieren und agitieren auf unterschiedlichen Ebenen, sind – gleich, ob westlich orientierter Fortschrittsdenker, machtbesessener Realpolitiker oder fanatischer Traditionshüter – Gefangene eines Systems, dessen Mechanik sie alle drei im nächsten Augenblick zermalmen wird.

Für treffliche Charakterisierung sorgen auch die Form- und Designvarianten der Kostüme. All das muss man schon übersehen wollen, um es nicht zu bemerken ...

Unangefochten blieb am Premierenabend die musikalische Leistung sämtlicher Beteiligten der Chöre (nebst dem der Staatsoper, einstudiert von Thomas Lang, auch die philharmonischen Kollegen aus Pressburg unter Johannes Mertl), der Solisten und des von Semyon Bychkov zu schier unglaublicher Differenzierungskunst geführten Orchesters: Vom zarten koloristischen Spiel der Sonnenstrahlen anlässlich der einleitenden „Morgendämmerung“ bis zu markerschütternden Glockenklängen wurde alles hörbar, was der Komponist und sein Orchestrator Dmitri Schostakowitsch aus mehrheitlich simplen, russischer Volksmusik abgelauschten Kantilenen und deren zahllosen Verwandlungen hervorgezaubert haben.

Wobei diese Produktion von Schostakowitschs Fassung nur im Finale abweicht: Die vorgesehene Wiederaufnahme der lyrischen „Ouvertüre“ unterbleibt. Zum kollektiven Selbstmord der „Altgläubigen“ ertönt ein machtvolles Gotteslob. Mussorgski selbst hat ja keine alexandrinische Lösung für die gordischen dramaturgischen Verknotungen seiner Geschichtserzählung gefunden. Umso eindrucksvoller hat er freilich die Einzelschicksale hörbar gemacht, wovon die exzellente Staatsopern-Besetzung reichlich Gebrauch macht.

Ferruccio Furlanettos vokal wie gestalterisch raumgreifender Fürst Chowanski findet dabei einen gleich sonoren, gleich durchschlagskräftigen Bass-Gegenspieler in Ain Angers Dossifei, der die Altgläubigen anführt. Phänomenal auch die Marfa der Elena Maximova, die in musikalischer wie szenischer Feinarbeit die dunkel-prophetischen Verkündigungen, aber auch die zynischen Zwischentöne dieser rätselhaften russischen Kundry hör- und sichtbar macht. Wie sie Lydia Rathkolbs Eiferin Susanna aus der Fassung bringt und auf die Palme treibt, sorgt für ein (von beiden Damen auch optisch ausgekostetes) sinnlich-lustvolles Intermezzo im dunklen Politdrama.

Diese Marfa ist offenkundig kein Kind von Traurigkeit. Dass sie – einziger Regie-Willkürakt dieser Produktion – offenkundig ein Verhältnis mit dem „Sektenführer“ hat, wirkt jedenfalls nicht unlogisch. Eindimensional ist nichts an diesem Abend. Herbert Lippert darf als Golizyn zwischen westlicher Aufgeklärtheit und russischer Traditionsverbundenheit schwanken. Vor den Prophezeiungen der Marfa geht dieser hochmütige, cholerische Mann kurzfristig in die Knie. Doppelgesichtig auch Andrzej Dobbers Intrigant Schaklowity. Rücksichtslos brutal, darf er dann doch den Verfall von Mütterchen Russland herzzerreißend betrauern.

Die Macht der Flüstertöne

Grandios, sogar dann, wenn er von den Volksmassen in die Luft geschleudert wird, der gewitzte und als Unheilsverkünder auch ungemein kraftvolle Schreiber von Norbert Ernst. Christopher Ventris wandelt sich vom rüden, zur Vergewaltigung bereiten Andrei Chowanski zum schicksalsergebenen Sektierer und macht das vokal als Stentor wie in der lyrisch-klagenden Entsagung deutlich.

Solid sämtliche mittleren und kleinen Partien von Caroline Wenbornes um Hilfe rufender Emma bis zu Marian Talabas trinkfreudigem und zu schlüpfrigen Spottgesängen bereitem Kuska. Ein Fest vom flüsternden Pianissimo bis zum mächtigen Schlusschoral der Chor. Was Wiens meisterliches Orchester, von dem zu Recht umjubelten Semyon Bychkov angespornt, an Farbenpracht und Ausdruckskunst, dynamisch reich schattiert, hören lässt, findet ohne Abstriche Widerhall auf der Bühne. Die Spannung im Saal war oft zum Greifen spürbar. Und das bei einem als langatmig verrufenen Werk!

Was für aktualisierende Purzelbäume wohl die Darsteller für jene Zeitgenossen schlagen müssten, die sich angesichts dieser Melange aus religiösem Fanatismus, politischem Machtstreben und Gewalt – inklusive Striptease voll verschleierter persischer Sklavinnen, beginnend mit einem zwangsläufig bewegungsgehemmten „Tschador-Cancan“ – keinen Reim machen können?

Livestream am 21. November (18.30 Uhr).
Info: www.staatsoperlive.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.11.2014)

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