Der unzerstörbare Mythos namens "Lulu"

SALZBURGER FESTSPIELE 2010: FOTOPROBE 'LULU'
SALZBURGER FESTSPIELE 2010: FOTOPROBE 'LULU'APA/BARBARA GINDL
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Im Theater an der Wien kommt Frank Wedekindseinst skandalumwitterte Frauenfigur in neuer Gestalt auf die Bühne: Olga Neuwirth hat Alban Bergs Oper "dekomponiert". Das Faszinosum "Lulu" bleibt.

Es gehört Mut dazu, als Komponistin eines der erfolgreichsten Musiktheaterwerke der jüngeren Vergangenheit zur Grundlage eines eigenen Stücks zu machen, jenes zu „dekomponieren“ und mit einem eigenen Schluss zu versehen. Olga Neuwirth scheut sich nicht. Ihre „American Lulu“ kommt im Theater an der Wien zur österreichischen Erstaufführung.

Sie basiert auf Alban Bergs Wedekind-Vertonung „Lulu“, die unvollendet blieb. Der Komponist starb 50-jährig an einer Blutvergiftung. Nach dem Sensationserfolg des „Wozzeck“ wollte man aber die zweite Berg-Oper nicht missen. Zumal der Stoff des Dramas magische Anziehungskraft zu besitzen schien: Das Mädchen aus der Gosse, das wie traumwandlerisch über Leichen geht, um seinen Aufstieg in die bürgerlichen Salons zu machen, fällt wieder tief, um in einer Londoner Dachkammer Opfer des Prostituiertenmörders Jack the Ripper zu werden.

Das vollendete Fragment. Nach übereinstimmenden Aussagen von Kennern, die das Material einsehen durften, hat Berg die Kompositionsskizze der „Lulu“ bis auf wenige Takte vollendet. Arnold Schönberg soll sich nur deshalb geweigert haben, den dritten Akt fertig zu instrumentieren, weil er sich mit angeblichen antisemitischen Anmerkungen seines Schülers Berg in der Szene des betrügerischen Bankiers nicht abfinden konnte.

Doch Witwe Helene Berg beschied, möglicherweise auch, weil sie manchen Seitensprüngen ihres Mannes auf die Schliche gekommen war, „Lulu“ müsse Fragment bleiben. Statt des dritten Akts spielte man den Schluss der noch vom Komponisten für eine symphonische Aufführung unter Erich Kleiber arrangierten „Lulu“-Suite: Er enthält das Intermezzo aus Akt III und das Finale der Oper. Diese Fassung erwies sich über Jahrzehnte als bühnentauglich. Auch in Wien kam sie als Staatsopernproduktion Mitte der Sechzigerjahre bei den Festwochen heraus, in einer legendären Inszenierung Otto Schenks. Sie lag auch der dritten Neuinszenierung der Staatsoper von 2000 zugrunde, für die Regisseur Willy Decker kurioserweise seine für ein anderes Haus erarbeitete dreiaktige Version wieder „verkürzte“.

Die vollständige Fassung hat Friedrich Cerha – noch zu Lebzeiten von Helene Berg, aber ohne deren Wissen – „hergestellt“, wie er das nannte. Sie kam in einer szenisch wie musikalisch meisterlichen Uraufführung in Paris, 1979, unter dem Leading-Team Patrice Chéreau und Pierre Boulez heraus, mit Teresa Stratas in der Titelpartie.

Legendäre Produktionen. Seither besteht die Möglichkeit, Bergs Oper in ihrer Gesamtheit zu erleben. Die meisten Häuser machen davon Gebrauch. In Wien sah man „Lulu“ mit Julia Migenes unter Lorin Maazel in voller Länge.

Die Diskussion um die Rechtmäßigkeit einer „Herstellung“ des dritten Akts ist dennoch nie verstummt. Sie scheint eine Rekomposition, wie Olga Neuwirth sie versucht hat, überhaupt erst zu ermöglichen.

Bleibt immerhin erstaunlich, dass ein Werk der musikalischen Moderne, noch dazu, wenn auch sehr frei, nach der ominösen Zwölftonmethode komponiert, solche Faszination ausübt und immer wieder – in welcher „Fassung“ auch immer – ins Programm genommen wird.

Alban Berg ist es offenbar gelungen, musikalisch eindringliche, in die Tiefe schürfende Klangbilder für die geradezu mythologischen Figuren zu schaffen, die Frank Wedekind in seinen beiden Tragödien „Erdgeist“ und „Büchse der Pandora“ für das Theater seiner Zeit erfunden hat.

Formgebung durch Musik. Schon Wedekind selbst hat versucht, die vielen einzelnen Szenen seines Stücks zu sinnvollen Einheiten zusammenzufassen, aus einem Fünfakter wurden zwei Dreiakter und schließlich wieder ein Fünfakter. Erst Berg, der geniale Dramaturg, hat durch geniale Straffung die stringente Form gefunden – und musikalisch einleuchtend zu fassen gewusst. („Logische“ Reprisenstrukturen haben es Friedrich Cerha übrigens ermöglicht, den dritten Akt im Sinne Bergs durch allerlei Erinnerungseffekte zu gestalten.)

Bezeichnenderweise hat die fünfaktige Letztfassung von Wedekinds „Lulu“ erst lange nach Bergs Oper ihre Uraufführung erlebt – Peter Zadeks Inszenierung mit Susanne Lothar war übrigens auch in Wien zu sehen. Doch mit wuchernder Fantasie sind Sprech- wie Musiktheater nie recht fertiggeworden. Strenge formale Zucht ist wohl das Erfolgsgeheimnis der Oper „Lulu“.

So haben Wedekinds Figuren die Zeiten überdauert. Die Sprengkraft dessen, wofür sie standen, hat schon die vorvorige Jahrhundertwende erkannt. „Die Büchse der Pandora“ stand sofort auf dem Index. Wedekind musste sich wortreich gegen den Vorwurf der Unzucht verteidigen und bemühte zu diesem Zweck sogar Analogien zwischen dem Künstler und dem Schicksal „unseres Religionsstifters“. Wie Wedekinds sittliche Vorsätze von deutschen Gerichten mangelnder Sittlichkeit geziehen wurden, sei auch der Gottessohn „wegen Gotteslästerung“ verurteilt worden...

Die Mythologie der neuen Zeit. Wie auch immer: Wedekinds Figuren, die Titelantiheldin ebenso wie etwa die vom Dichter selbst als Hauptfigur benannte Gräfin Geschwitz, scheinen im Rückblick tatsächlich wie mythologische Gestalten: emanzipatorisch freiheitsliebend, ja freiheitssüchtig die eine, in nie öffentlich ausgelebter Homosexualität von den Moralvorstellungen ihrer Zeit geknebelte Leidensgestalt die andere.

Auch der wunderliche Clochard Schigolch, den manche für Lulus Vater, manch andere für ihren ersten Liebhaber halten, wandert wie ein rätselhaft vertrauter Fremdling durchs Stück, um sich zuletzt so unbemerkt aus dem Geschehen zu schleichen, wie er hereingekommen ist: „Wenn jemand nach mir fragt, ich sitze unten im Lokal.“

Dieser Satz beschreibt wie nichts anderes die irreale, doch übernaturalistische Zauberwelt der „Lulu“: Nichts daran ist echt. Wer hätte je nach Schigolch gefragt? Und mit Sicherheit sitzt er jetzt in keinem der nahe gelegenen Lokale. Aber die Schigolchs findet man dort. Und die Gräfinnen, die Lulus!

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.11.2014)

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