Jewgenij Kissin: Klavierspiel im Drei-Musketier-Prinzip

Jewgenij Kissin
Jewgenij Kissin(c) EPA (Urs Flueeler)
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Der Starpianist begeisterte mit Beethovens Waldsteinsonate, Chopin, Liszt und vor allem der vierten Sonate von Prokofieff.

Das Unheil kommt an diesem Abend im Wiener Musikverein auf leisen Sohlen daher, unauffällig, aber unerbittlich. Er bleibt auf einmal auffällig diszipliniert im Puls, dieser Jewgenij Kissin, der bei den vorangegangenen zwei Chopin-Nocturnes noch die Grenzen des Rubatos austestete. Doch jetzt, im ersten Teil des c-Moll-Nocturnes: geradlinige Schlichtheit, mehr resignativ als pedantisch. Die Spannung, die er damit aufbaut, ist immens, sie entlädt sich zunächst eruptiv im Dur-geprägten Mittelteil, der durch die fiebrige Reprise aber als Illusion entlarvt wird, und kulminiert in zwei harten Akzenten, erst auf dem Leitton, dann dem Grundton. Das ist pure, klanggewordene Ausweglosigkeit, und wie Kissin das auf dem Flügel herauspräpariert, ist schlicht atemberaubend.

Sein Klavierspiel ist ein stetiger Energiefluss nach dem Drei-Musketier-Prinzip: Einer für alle, alle für einen. Jeder Ton scheint hier für das Gesamte zu stehen, ein Nukleus, in dem das Vorangegangene und das Folgende bereits enthalten sind. Das einstige Wunderkind Kissin hat längst eine bezwingende Reife und Tiefe erlangt. Wie wenige andere Pianisten bewahrt und gewährt er immer den Überblick über das Ganze, sei es eine Kleinform wie das genannte c-Moll-Nocturne (dem noch eine Auswahl meist früher Mazurken Chopins folgte), sei es Beethovens Waldstein-Sonate und Prokofieffs vierte Sonate, die im ersten Teil auf dem Programm standen, beides Werke, mit denen man durchaus auch ein Konzert effektvoll beschließen könnte. Doch Kissin benützt Beethovens fordernde Sonate quasi zum Warmspielen. Die Tempowahl ist zunächst vergleichsweise zurückhaltend, erst gegen Ende der Exposition, steigt der Pianist auf das Gaspedal, ohne dass diese Eigenwilligkeit willkürlich aufgesetzt daherkommen würde. Leicht störend wirkte eher, dass der Pedaleinsatz manche Linien verschwimmen ließ. Am Gesamteindruck der Klangarchitektur, die Kissin vor seinem Publikum ausbreitete, änderte das freilich wenig.

Architektur ist gerade auch das Stichwort bei Prokofieff. Kissin fügt die drei charakterlich auseinanderstrebenden Sätze mühelos zu einer bezwingenden Einheit zusammen, wie ein Reiseführer nimmt er den Zuhörer gleichsam an der Hand, macht Prokofieffs ausgefeilte Themenverarbeitung transparent und gibt sich schließlich im finalen Allegro einer befreienden Virtuosität hin, die allerdings immer dienende Funktion hat.

Virtuosität als Spaß an der Freud' gab es dann freilich auch noch, mit Franz Liszts 15. ungarischer Rhapsodie in a-Moll, bei der Kissin – das gehört ja bei diesem Stück auch irgendwie zur Aufgabenstellung – demonstrierte, was so ein Klavier eigentlich alles aushalten kann. Der sich immer mehr steigernde Jubel wurde mit drei Zugaben (nochmals Chopin/Liszt/Prokofieff) quittiert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.01.2015)

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