Pierre Boulez: Ein Revoluzzer und Bewahrer

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Pierre Boulez, Galionsfigur der Avantgarde, wird am Donnerstag 90 Jahre alt. Stilistische Grenzen hat er weder als Komponist noch als Dirigent je akzeptiert.

Sein kompositorisches Schaffen ist überschaubar, seine Wirkungsmacht kaum zu überschätzen: Pierre Boulez ist eine der einflussreichsten Musikerpersönlichkeiten unserer Zeit, Galionsfigur der Avantgarde, gesuchter Dirigent, Revoluzzer und Bewahrer in einem.

Sein Spruch, man möge doch die Opernhäuser in die Luft sprengen, wird – aus dem Zusammenhang gerissen – bis heute zitiert und gegen seine eigenen Aktivitäten in ebendiesen Opernhäusern, voran dem Festspielhaus von Bayreuth, ins Treffen geführt.

In Wahrheit ist Pierre Boulez so einfach nicht zu fassen. Auch als schöpferische Potenz nicht, denn er hat Musik komponiert, die zum Fortschrittlichsten gehört, das die Moderne nach 1945 hervorgebracht hat; und er hat in Tönen die Erinnerung an die Klangsensibilität der Impressionisten beschworen. Dergleichen Unvereinbarkeiten passten bei ihm gut unter ein Dach.

Mitte der Fünfzigerjahre war Boulez einer der Dozenten der Darmstädter Ferienkurse und damit einer der führenden Köpfe der Avantgarde. Die Studenten beschäftigten sich unter seiner Anleitung damals vor allem mit der Vorausberechnung sämtlicher Parameter ihrer Kompositionen; als Weiterführung der Zwölfton-Visionen Arnold Schönbergs hatten sie sich den Serialismus auf ihre Fahnen geheftet, die völlige Kontrolle über Tonhöhen, Rhythmen und Metren, Dynamiken. Nichts sollte mehr dem Zufall überlassen sein.

Der gleiche Pierre Boulez, der solches kritisch überwachte, hatte schon 1951 einen bemerkenswerten Lexikonartikel zu Schönbergs Tod verfasst und diesem eine Analyse mit dem Titel „Strawinsky lebt“ gegenübergestellt – womit er sämtliche theoretischen Überlegungen relativierte, an denen sich die Vordenker der Neuen Musik damals orientierten. Boulez stand über ihnen, hatte für jeglichen Dogmatismus nur spöttische Bemerkungen übrig.

Jahrhundert-„Ring“

Er ging seinen Weg, gründete Festivals und Ensembles für die Pflege der zeitgenössischen Musik, war bahnbrechender Vordenker für Konzertsaal-Neubauten und trug zur Verankerung der Notwendigkeit einer Förderung der lebendigen Kunst in den Köpfen der Kulturpolitiker bei; nicht nur in Frankreich. (Apropos: Dass in Paris jüngst eine neue Philharmonie eröffnet wurde, geht selbstverständlich auf Boulez' Anregung zurück. So viel zum In-die-Luft-Sprengen . . .)

Was die Produktivität des Komponisten Boulez anlangt, so scheint sie nach Publikation einiger inhaltlich (und in ihrer zeitlichen Ausdehnung) groß angelegter Stücke vom Format des „Marteau sans maître“ oder der vergleichsweise riesenhaften, einst von Maurizio Pollini propagierten zweiten Klaviersonate, bald auf Sparflamme gehalten worden zu sein. Wie die „Notations“, die im Wesentlichen schon in den Vierzigerjahren entstanden und dann nach und nach orchestriert wurden, konnten die meisten Stücke, die er publizierte, sofort mustergültigen Rang beanspruchen. Doch kanalisierten sich Boulez' Aktivitäten mehr und mehr auf den interpretatorischen Sektor.

Der Dirigent Boulez blieb wie als Komponist – nicht zuletzt als Nachfolger Leonard Bernsteins am Pult der New Yorker Philharmoniker – Vorkämpfer des Neuen und dirigierte alles, was ihm qualitätvoll erschien, von der zweiten Wiener Schule über die Impressionisten bis zu Werken seines Lehrers Olivier Messiaen. Stilistische Grenzen hat dieser Künstler auch als Dirigent nie akzeptiert.

Dass er nach Bayreuth ging, um 1966 (und dann noch einmal 2004) den „Parsifal“ einzustudieren, sowie an der Seite von Patrice Chéreau 1976 bis 1980 den sogenannten Jahrhundert-„Ring“ zu verantworten, haben ihm die Bannerträger des Fortschritts nie verziehen, doch runden die Festspielerfahrungen das Bild vom universellen Meister ab: Boulez erkannte freilich die revolutionären Aspekte in Richard Wagners Werk und verstand es, sie gehörig ins Licht zu setzen.

Mit Orchestern wie den Berliner oder den Wiener Philharmonikern kam Boulez erst Anfang der Neunzigerjahre in Kontakt, arbeitete dann jedoch eine Zeit lang konsequent mit ihnen. Was die Wiener betrifft, hat Pierre Boulez nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass dieses Orchester seine quasi traditionsspezifische Affinität zur Musik von Schönberg oder Alban Berg entdeckt und vertieft hat. Die Früchte erntet das Publikum: Dass die philharmonischen Programme heute ganz selbstverständlich offener, „moderner“ geworden sind, hat durchaus auch mit der Vorbildwirkung der Auftritte dieses Künstlers zu tun.
So verdankt auch Wien – neben mancher sogenannten „Kulturhauptstadt“ – dem heute 90-Jährigen die kräftige Verjüngung seines Images.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.03.2015)

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