Neil Shicoff: „Arien sind immer mit Angst verbunden“

WIENER STAATSOPER: ãPIQUE DAMEÒ
WIENER STAATSOPER: ãPIQUE DAMEÒ(c) APA
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Am Sonntag, feiert der große Tenor an der Staatsoper sein 40-Jahr-Bühnenjubiläum mit Szenen aus vier seiner Paraderollen. Mit der „Presse“ sprach er über seine Anfänge, sein Lampenfieber und die drei Tenöre.

Die Presse: Herr Shicoff, Ihr professionelles Debüt erfolgte 1975, aber Sie haben doch schon als Achtjähriger bei einer jüdischen Hochzeit öffentlich gesungen?

Neil Shicoff: Mein Vater, ein berühmter Kantor, hatte mir fünf Dollar versprochen, meine allererste Gage. Doch als Kind war ich noch nervöser als später auf der Opernbühne, ich sang grauenvoll und so war das gleich meine erste Abschiedsvorstellung. Mit 14, 15 begann ich dann zu Schellacks von Jan Peerce zu singen, zu Björling, Kiepura, Caruso. Mein Vater sagte, wenn ich das lassen könnte und auch damit aufhörte, mir beim Baseball die Seele aus dem Leib zu schreien, dann würde er mich unterrichten. Als er nach einem Jahr starb, ging ich zu seinem Lehrer – der Beginn einer langen Kette. Doch in der Kantorenschule fühlte ich mich nicht wohl, sang an der Juilliard School vor. Beim zweiten Versuch wurde ich aufgenommen. Maria Callas hörte mich und sagte: „Bravo!“ Ich war im siebenten Himmel – und fiel aus allen Wolken, als ich dann nur als Parpignol in „La bohème“ besetzt wurde! Aber Peter Mennin, der Präsident, zeigte aus seinem Bürofenster auf die Metropolitan Opera und fragte mich: „Willst du eines Tages da drüben singen? Ja? Dann lass dir Zeit.“ 1975 kam dann der Ernani unter Jimmy Levine in Cincinnati. Ich kam mir sehr klein vor neben Jimmy und Sängern wie Giaiotti und McNeill. Die Kritiken waren gemischt, meine Gage betrug 750 Dollar: ein großer Schritt. Levine ließ mich trotz meiner geringen Erfahrung an der Met vorsingen, ich debütierte dort als Rinuccio in „Gianni Schicchi“.

Sind Sie also doch zu früh an die Met gekommen?

Luis Lima, der seine Karriere früh beendet hat und sein Leben auf seiner riesigen Ranch in Südamerika genießt, sagte mir einmal: „Du bist deshalb so nervös, weil es bei dir so schnell gegangen ist!“ Mein Lampenfieber ist über die Jahre geringer geworden, aber nie verschwunden.

Sie haben sich immer zu dunklen, problematischen Charakteren hingezogen gefühlt...

Ich liebe Werther, Peter Grimes, Vere, Lenski, Hermann – warum? Weil ich selbst schwierig bin, schwierig und neurotisch, ich gebe es zu. Nicht auf der Businessebene, aber bei der Entwicklung einer Figur und natürlich durch mein Lampenfieber. Ich wollte nie bewusst kapriziös sein, sondern war einfach in Panik. Und getrieben von einem unglücklichen Zwang zur Perfektion, ob nun im Klang eines Tons oder in einer Geste. Eine Perfektion, die ich nicht erreichen konnte, was mich erst recht verrückt machte. Ich war und bin nie zufrieden – nicht weil ich kein Superstar bin, sondern wegen mir selbst.

Sie galten stets als der intensivste Charakterdarsteller ihres Fachs.

Nach dem Tod meiner Mutter 1984 habe ich die Vorstellungen eines halben Jahres abgesagt. Ich konnte nicht singen, war leer, hatte keine Botschaft. Dann sah ich Robert Redfords „Ordinary People“ und stolperte heulend aus dem Kino. Der Film hat mich als Künstler verändert, ich habe mich dadurch selbst wiedergefunden. Durch meine Verletzlichkeit kann ich Emotionen projizieren, aber ich durchlebe sie. Einige Menschen, vielleicht fünf oder sechs in einem vollen Haus, kann man dadurch so berühren, dass sie ihr Leben mit anderen Augen sehen.

Hat diese Fähigkeit Sie darüber hinweggetröstet, neben den drei Tenören ein bisschen vernachlässigt worden zu sein?

Ich übernehme absolute Verantwortung für meine Laufbahn. Meine Nerven haben mich, glaube ich, zu einem interessanten Künstler gemacht, zugleich hat es mich auch behindert, etwa Tage, Wochen, Monate vor wichtigen Vorstellungen nervös aufzuwachen. Ich habe nichts als Bewunderung für die drei Tenöre, die vor Millionen in großen Stadien gesungen haben, weil ich weiß, dass ich damit nicht so gut fertig geworden wäre wie sie. Vielleicht wird man einmal rückschauend feststellen, dass die Oper dadurch ein bisschen Fast-Food-ähnlich wurde: Heute gibt es im US-Fernsehen allzu viele Erscheinungen wie The Twelve Divo Tenors oder Ähnliches. Aber alle drei haben auch in den bedeutendsten Opernhäusern mit den besten Dirigenten und Regisseuren gearbeitet.

Wie stehen Sie heute zu dem gescheiterten Plan, die Staatsopern-Direktion zu übernehmen?

Was die Sache anlangt: Water under the bridge! Holender sagte mir einmal, als ich es noch nicht hören wollte: „Das Leben entwickelt sich schon so, wie es soll.“ Das mag sich oft bewahrheiten, aber ich weiß nicht, ob es gerade in diesem Fall stimmt. Das hat natürlich mit Dominique Meyer absolut nichts zu tun, er hat getan, was jeder getan hätte, nämlich den Job angenommen.

Sie sind inzwischen auch als Lehrer aktiv.

Ja, weil ich Stimmen liebe. Technik ist unglaublich wichtig, ich arbeite mit jedem hart daran – aber ohne Botschaft ist alles langweilig. Man muss zu den Leuten vordringen können, ihre Mauern niederreißen.

Bei der Gala zu Ihrem Jubiläum sind Sie in Szenen aus vier Ihrer zentralen Partien zu hören. Warum und warum gerade diese?

Weil mir die Rollen viel bedeuten, ich die Szenen mag und vor allem auch die Kollegen, die sich bereit erklärt haben, diesen Abend mit mir zu feiern. Ich bin lieber mit Partnern auf der Bühne, finde die Interaktion in Ensembles wunderbar. Arien sind immer mit Angst verbunden, ich liebe Stimmen, Gefühle, Kollegen – aber keine Arien! „Les contes d'Hoffmann“ kam früh für mich, Jürgen Flimms grandiose Produktion 1982 in Hamburg war ihrer Zeit weit voraus. Neben dem als Bösewicht so präsenten Simon Estes konnte ich mit vielen unaufgearbeiteten Gefühlen für meinen Vater fertig werden.

Dann der Eléazar in „La Juive“...

Etwas ganz Besonderes, gerade in Wien. Dass Günter Krämer die Arie im vierten Akt als Holocaust-Erinnerung inszenieren wollte, hat in mir Bilder von meinen Großeltern wach gerufen, die ihre Geschwister verloren hatten. Ich bin in dieser Partie weniger nervös, weil ich mich als Gefäß für die Seelen fühle, die wir in diesem oder in anderen Genoziden haben. Ich sehe das Stück nicht aus speziell jüdischer Perspektive, sondern es behandelt für mich ganz allgemein Vorurteile und Intoleranz, ist keine Oper, sondern meine Verbindung zum Universum der Schmerzen. Eléazar könnte genauso gut Palästinenser sein. Die Premiere war vielleicht der Höhepunkt von allem, was ich erreicht habe – nicht weil sie perfekt gewesen wäre, sondern wegen der Tiefe der Erfahrung, auch im Austausch mit dem Wiener Publikum. Ich hatte auch das Glück, durch Holender die Kraft eines jüdischen Direktors an meiner Seite zu fühlen. Zu ihm habe ich eine besondere Beziehung, mit Schwankungen im Persönlichen: Als es schien, ich würde sein Nachfolger als Staatsopern-Direktor, wurde es etwas schwierig... Aber zu mir als Sänger war er immer großartig, das werde ich ihm nie vergessen. Er ist eine der Schlüsselfiguren in diesen 40 Jahren, so wie Levine oder mein früherer Agent Matthew Epstein. Und, auf andere Art, Alexander Pereira in Zürich.

Davor kommt „Pique Dame“ mit Anja Silja als alter Gräfin. In der „Presse“ sagte Silja über Sie: „Endlich einer, der nicht nur rumsteht!“

Das sagt sie nur, weil wir Sex auf der Bühne hatten! Wie am Schluss von „Carmen“ ist es auch da eine Vergewaltigungsszene. Ich bin der großartigen Agnes Baltsa noch heute dankbar und liebe sie dafür, dass sie mich damals als Don José akzeptiert hat, obwohl sie so eng mit Plácido, José und Luis war. Leider hat sie absagen müssen. Auch Anja Silja ist eine unglaublich große Künstlerin, die noch dazu über enorme körperliche Fitness verfügt. Ich freue mich sehr, sie wiederzusehen.

Sind diese vier Szenen zusammen nicht viel fordernder als jede der kompletten Partien allein?

Kollegen scherzen schon: Was, wenn Shicoff die Gala absagt? Ich bin völlig aufgelöst, gurgle mit Salzwasser und werde mein Bestes geben. Mehr kann ich nicht dazu sagen.

Neil Shicoff, geboren am 2.Juni 1949 in Brooklyn, New York, ist Kammersänger und Ehrenmitglied der Wiener Staatsoper. Seit 1979 hatte er hier 246 Auftritte in 20 Partien. Allein 30-mal sang er seine Lebensrolle: den Eléazar in Halévys „La Juive“.

Staatsoper, 3.Mai, 18.30 Uhr: Gala „40 Jahre Bühne“ mit Szenen aus „Les contes d'Hoffmann“, „Pique Dame“, „La Juive“ und „Carmen“. Livestream: www.staatsoperlive.com

Volksoper, 10.Mai: Gast bei der Benefizmatinee „Nein zu Krank und Arm“.

Ronacher, 8.Juni: Auszeichnung mit dem „Goldenen Schikaneder“ für sein Lebenswerk.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.05.2015)

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