Da lauschten die Wiener Musikfreunde mit offenem Mund

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An zwei Abenden spielte die Sächsische Staatskapelle Dresden unter Christian Thielemann Bruckner. Das waren maßstabsetzende Interpretationen, von seltener Klangschönheit getragen. Außerdem begleiteten die Gäste aufmerksam Gidon Kremer und Christian Gerhaher.

Zwei Bruckner-Aufführungen von singulärem Rang markierten den musikalischen Höhepunkt der Wiener Festwochen-Zeit: Christian Thielemann war mit seiner Sächsischen Staatskapelle Dresden zu Gast und rückte wieder einmal alle Größenvorstellungen zurecht. Seit seinem Wiener Konzertdebüt hat der Berliner Kapellmeister immer wieder bewiesen, dass er Orchester zu Höhenflügen animieren kann, die seine Auftritte zu Festen machen.

Diesmal Bruckners Vierte und Neunte Symphonie in Interpretationen, die Maßstäbe setzen – was im Musikverein ja etwas heißen will. Faszinierend zu beobachten, wie die Bruckner-Deutung Thielemanns sich entwickelt. Von den etwas gekünstelten Zäsuren, mit denen er früher oft Formteile voneinander abzusetzen trachtete, hat er sich ganz und gar entfernt. Die Musik fließt unter seinen Händen, die Themen wachsen, wo das möglich ist, nahtlos auseinander hervor. Dafür ereignen sich kontrastierende Schnitte, die Bruckner auch setzt, mit aller Wucht, ohne dass die Musiker dafür zu sonderlicher Kraftanstrengung ausholen müssten.

Thielemann übt sich eher in gestischer Zurückhaltung, wo Fortissimi verlangt sind. Laut wird die Sache, das weiß er aus der Oper, von selbst. Nur für krönende Final-Wirkungen muss er ein wenig ausholen, um letzte Reserven zu mobilisieren.

Im Übrigen versteht er sich offenkundig als Klangregisseur. Das satt-dunkle Timbre der Staatskapelle lässt er sonor austarieren. So ergeben sich magische Momente wie der Beginn der Durchführung im Kopfsatz der Es-Dur-Symphonie: Über einem kaum noch hörbaren Paukenwirbel entfalten sich die Holzbläsersoli bei wirklich atemloser Stille im Goldenen Saal. Angesichts solch selten erreichter, vollkommener Konzentration der Hörerschaft scheint das Pianissimo des Meisterorchesters sich in beinahe unhörbare Regionen zurückzuziehen.

Klangmacht und Schwerelosigkeit

Höchste Differenzierung erreichen die Musiker in den massiv orchestrierten Passagen dank subtiler Modulationsfähigkeit in jeder einzelnen Stimme. Singulär, wie sich im dritten Themenblock des ersten Satzes der Neunten das kontrapunktische Geflecht transparent über einer geradezu schwerelos leicht phrasierten Bassmelodie entwickelt.

Dank der dramaturgischen Übersicht Thielemanns fügen sich die solcherart modellierten Klangereignisse zu logischen, über weite Strecken hin natürlich entwickelten Erzählsträngen. Am Ende der Symphonien sitzt die Wiener Kennerschaft mit offenem Mund staunend und überwältigt da: Es braucht jeweils halbe Schreckminuten, ehe – dann freilich tosender – Applaus einsetzt.

Freundlicher Beifall dankte auch einer Novität wie dem Violinkonzert „in tempus praesens“ von Sofia Gubaidulina, deren Kompositionsweise mit der Bruckners insofern verwandt scheint, als auch sie offenbar in großen Blöcken denkt, die freilich scheinbar völlig unvermittelt nebeneinander zu stehen kommen. Sie scheint mit Erinnerungen an avantgardistische und spätromantische Klangwelten zu spielen wie ein Kind mit Bauklötzen: Das Gebäude, das entsteht, ist architektonisch von naiv-fantastischer Zufälligkeit, aber offenkundig doch standfest. Durch die Fenster gibt es den Blick frei auf Gidon Kremers raffiniert, manchmal beinah verrückt-frei wirkende, liebevoll gedrechselte Geigensoli.

Das ist Neue Musik, die auch ein konservatives Publikum nicht schockiert – und wohl vor allem zur Beruhigung all jener Kommentatoren dient, die da meinen, Christian Thielemann bewege sich ja doch immer nur auf den alten, ausgefahrenen klassisch-romantischen Repertoire-Gleisen.

Anderntags gab es vor der Pause einen halben Liederabend mit Christian Gerhaher, der Schubert – zwei selten gehörte Nummern aus „Alfonso und Estrella“ – mit Wagner konfrontiert: dem ersten Gesang des Wolfram von Eschenbach aus dem „Tannhäuser“-Sängerkrieg und Hans Sachsens „Fliedermonolog“ aus den „Meistersingern“. Vor allem die faszinierende Mischung aus prägnanter Rezitation und völlig liedhafter Linienführung im „Tannhäuser“-Bruchstück geriet der üppig tönenden Begleitung durch die Staatskapelle ebenbürtig und ließ bedauern, dass der große Liedersänger so selten zu Opernauftritten zu bewegen ist (Wolfram sang er heuer an der Staatsoper, kommende Spielzeit in Berlin, sonst ist gerade eine „Wozzeck“-Serie in Zürich angekündigt).

Mit den beiden Schubert-Szenen engagierte sich der begnadete Liedinterpret für zwei durchaus aufwühlend dramatische Momentaufnahmen aus einem der vergeblichen Opernversuche des Wiener Meisters. Wer nach dieser Begegnung fragt, warum dermaßen prächtiger Musik auf der Bühne nicht das ewige Leben beschieden sein mochte, muss nur die Inhaltsangabe von „Alfonso und Estrella“ nachlesen; dann schon lieber die wortlose Dramaturgie eines Anton Bruckner. Sie teilt sich spontan mit.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.05.2015)

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