Nachruf: Jon Vickers, der tenorale Löwe mit den samtweichen Pfoten

(c) Metropolitan Opera
  • Drucken

Der kanadische Wagner-Sänger, der schon als Jugendlicher heldische Partien gestaltete, starb 88-jährig nach langer Alzheimer-Krankheit. In allen großen Opernhäusern der Welt war er der gesuchte Siegmund, Tristan, aber auch Verdis Don Carlos oder Othello und Leoncavallos Bajazzo.

Seine „Wälse“-Rufe im Schwertmonolog des ersten Aufzugs der „Walküre“ waren legendär. Wer sie hören durfte, vergisst sie nicht mehr. Keineswegs deshalb, weil der Sänger sich am dümmlichen „Wer hält am längsten durch?“-Wettbewerb beteiligt hätte, den manche seiner Kollegen bei dieser Stelle veranstalten. Es ging nicht um die Länge der Töne, sondern darum, wie sie klangen! In diesen Lauten schwang Verzweiflung, aber auch Trotz mit, der Trotz eines Helden, der angesichts eines charakterlosen Gegners nicht aufgeben will, nur weil ihm die nötige Waffe nicht zur Verfügung steht . . .

Ausdruckskraft war die hervorragende Eigenschaft des Gesangs von Jon Vickers. Ausdruck, gepaart mit Kraft, sollte es vielleicht besser heißen, denn die Expansionsfähigkeit des Tenors war gewaltig. Von Anbeginn. Den Siegmund sang der 32-Jährige in Bayreuth schon 1958, ein Jahr nach seinem Debüt in einer Aufführung von Verdis „Maskenball“ am Londoner Covent Garden.

Dass er beide Rollen nebeneinander singen konnte, sagt viel über die Differenzierungskunst dieses Sängers aus, dem man hie und da vorgeworfen hat, die Stimme allzu dickflüssig zu führen. Gottlob hat sich von seinem Riccardo in diesem Londoner „Maskenball“ ein Mitschnitt erhalten: Man sollte das leicht und eloquent phrasierte „Lach“-Ensemble aus dem zweiten Akt hören, wenn man sich der Kunst dieses Interpreten erinnern möchte, und die Arie davor – besonders, wenn von den „dolci canzoni“, den süßen Liedern, die Rede ist: Da wird Vickers' Tongebung ganz zart und geschmeidig.

Wagner und die Empfindsamkeit

Das war auch bei der Gestaltung von tenoralen Schwergewichten sein Atout: Ob Siegmund oder Tristan, Vickers vermochte nicht nur den Wagemut und Stolz dieser Figuren hörbar zu machen, sondern vor allem auch ihre Menschlichkeit. Dass es ihm gelang, alle Wagner'schen Orchesterwogen zu durchdringen, dann aber im Pianissimo der Liebesduette auch sensibel zu phrasieren, hie und da den Stimmklang in ätherische Regionen zurückzunehmen, sicherte ihm die Liebe des Publikums und das Wohlwollen von Dirigenten wie Sir Georg Solti oder Herbert von Karajan, der Vickers in Salzburg auch als Florestan in „Fidelio“ und vor allem im später verfilmten „Otello“ präsentierte.

Dabei war Vickers nie ein willfähriger Erfüllungsgehilfe kapellmeisterischer oder regielicher Vorstellungen. Er weigerte sich aus religiösen Gründen, den „Tannhäuser“ zu singen und setzte seinen Kopf, wenn es sein musste, auch gegen den Willen von Komponisten durch: Benjamin Britten soll konsterniert gewesen sein, als er seinen Peter Grimes erlebte; und doch gilt diese Interpretation als maßstabsetzend!

Mag sein, dass sie auf einem Irrtum beruhte, aber der Intensität der Gestaltungskunst dieses Interpreten konnte sich auf Dauer ja doch niemand entziehen. (sin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.07.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.