Der wilde, drastisch überzeichnende Mahler

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Gerade die Vierte Symphonie Mahlers wurde oft verharmlost. Ivan Fischer mit dem Budapest Festival Orchestra tat das ganz und gar nicht. Und Bartók interpretierte er klar und distanziert.

Festspiele sind vielleicht auch dazu da, interpretatorische Extrempositionen abzustecken. Die Rezeption Gustav Mahler'scher Symphonien ist erst in den Siebzigerjahren so recht in Gang gekommen. Davor waren diese heute zum Kanon zählenden Werke nur in Ausnahmefällen im Salzburger Programm anzutreffen. Seit damals wurden Mahler-Aufführungen geradezu inflationär. Wirklich herausragende Wiedergaben sind freilich selten. Was die Vierte betrifft, die als die „leichteste“, weil orchestral verhältnismäßig klein besetzte der Symphonien gilt, erinnert man sich vielleicht der außergewöhnlich schönen, ganz auf edelsten Berliner philharmonischen Klang abgetönten Aufführung unter Herbert von Karajan.

Das muss so ums Jahr 1980 gewesen sein und ist mir vor allem deshalb wieder ins Gedächtnis gekommen, weil Ivan Fischer mit seinem Festival Orchestra aus Budapest am vergangenen Sonntag sozusagen die äußerste Gegenposition zu dieser Interpretation markiert hat. „Zu schön“, monierten einst die Rezensenten, denn Karajan hatte die grotesken, grimassierenden Momente dieser Musik tatsächlich zumindest „unterspielt“.

Wer das damals als Mangel empfand, wurde nun mehr als drei Jahrzehnte später entschädigt. Fischer zeigt den wild gestikulierenden, den drastisch überzeichnenden Mahler, dem noch in der scheinbaren Idylle Gespenster erscheinen und dem unter dem Eishauch eines plötzlich einfallenden Nordwinds alle bunten Wiesenblumen jäh abzufrieren drohen.

Bald geht's ins „große Einmaleins“

Das hat natürlich sein Richtiges. Gerade die Vierte wurde auch von der Mahler-Exegese jämmerlich verharmlost. Sie beginne zwar, „als ob sie nicht bis drei zählen könnte“, warnte der Komponist selbst, doch gehe es bald ins „große Einmaleins“. Und dieses ist in Mahlers Mathematik stets hintergründig und vielschichtig.

Zerrbilder hatte Fischer ja schon aus Béla Bartóks kleinen „ungarischen Skizzen“ gemacht, vor allem die kleine beschwipste Szene kam ganz karikaturistisch heraus.

Dem Dritten Klavierkonzert desselben Meisters schenkten die ungarischen Gäste wie der Pianist Yefim Bronfman keinen Hauch von Poesie oder lyrischer Abgehobenheit: Selbst der zarte Konzertbeginn klang holzschnittartig klar und distanziert. Und die Vogelstimmen inmitten des gar nicht besinnlichen, sondern dank des von diesem Orchester offenbar als Stilprinzip hochgehaltenen niedrig dosierten Streichervibratos eher apathisch klingenden „Adagio religioso“ wuchsen zu geradezu aggressiver Spitzigkeit. Erst Miah Persson brachte einen süßen, milden Ton ins Spiel, als sie im Mahler-Finale „vom himmlischen Leben“ sang; da wäre gerade Skepsis am Platz, geht es doch in dieser Jenseitsvision aus „Des Knaben Wunderhorn“ reichlich blutrünstig zu. Aber das gehört vielleicht zum Spiel, wenn man Mahler quasi von seiner Schattenseite her zu erobern versucht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.08.2015)

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