Festspiele: Werther als höherer Naturbursch

Angela Gheorghiu (im violetten Kleid).
Angela Gheorghiu (im violetten Kleid).Salzburger Festspiele/Marco Borrelli
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„Werther“ konzertant: Begeisterung für Angela Gheorghius fein ziseliertes Pathos, frenetischer Jubel für die tenorale Leidenschaft von Piotr Beczała.

„Eine dichterische Licenz!“, räumt in Thomas Manns Roman „Lotte in Weimar“ der ebenso beflissene wie geschwätzige Mager, Kellner und Faktotum des Gasthofs Zum Elephanten in Weimar 1816, sogleich ein. Eine „Licenz“ sei es, die „von der waltenden Identität kein Titelchen abzudingen“ vermöge: Dass Goethes eigene, die reale Lotte, mittlerweile „Hofräthin Witwe Charlotte Kestner, geb. Buff, von Hannover“, zwar blaue Augen hat, die mehr als 40Jahre zuvor künstlerisch verewigte Lotte in den „Leiden des jungen Werthers“ aber schwarze, deutet Mager als „cache-cache“, um „ein wenig die Spur zu verwischen“. Die Hofratswitwe aber kennt den wahren Grund für die Umfärbung, und an einer Stelle in „Lotte in Weimar“ gibt sie sogar zu erkennen, wie sehr sie dieser verdrießt: Maximiliane von La Roche, verehelichte Brentano, eine weitere vergebliche Geliebte Goethes...

Auch bei den Salzburger Festspielen gab es in diesem Sommer bei Charlotte den Wechsel von blauen zu schwarzen Augen – und für die Fans der lettischen Mezzosopranistin Elīna Garanča mag er tatsächlich einigen Verdruss bedeutet haben: Sie hätte nach längerer Pause zu einer ihrer wichtigsten Partien zurückkehren sollen, der Charlotte in Massenets „Werther“. Traurige familiäre Gründe aber ließen sie absagen – und als prominente Einspringerin wurde keine Geringere als Angela Gheorghiu aus dem Besetzungshut gezaubert. Eine doppelte Überraschung: Erstens ist die rumänische Fulltime-Diva ein eher seltener Gast in Salzburg. Nach dem Debüt in einer Mozartmatinee war sie 1995 eine von drei „Traviata“-Darstellerinnen unter Muti, 2002 gastierte sie konzertant mit Roberto Alagna, damals noch Ehemann und bevorzugter Tenorpartner, in Gounods „Roméo et Juliette“, und schon 2003 endeten vorläufig ihre Festspielauftritte mit einem Liederabend. Zweitens hat die Sopranistin diese Mezzopartie zwar längst aufgenommen, aber erst kürzlich erstmals auf der Bühne gesungen, an der Wiener Staatsoper.

Gheorghiu: Kusshand für einen Jubler

In konzertantem Rahmen, also mit dem Orchester im Rücken, bringt sie auch jene Passagen noch besser über die Rampe, die ihrem kostbaren Sopran etwas unbequem tief liegen. Doch da Brustregister und Mittellage bei ihr nahtlos ineinanderübergehen, trüben keinerlei ungewollt derben Klänge ihren Gesang. Das läge ihr ohnehin fern: Ein edles Pathos prägt nämlich Gheorghius differenzierten Vortrag, eine Überhöhung der Realität, die deshalb keineswegs gleich ins Unechte, Gekünstelte abdriften müsste. „Werther!“ stößt sie also etwa am Beginn des dritten Akts mit bebender Tongebung und rollendem r aus – und verliert diese gleichsam händeringende Haltung nie, obwohl sie nach dieser Szene einem Jubler ungeniert eine Kusshand zuwirft. Das unterscheidet ihre Charlotte fundamental von Piotr Beczałas Interpretation des Werther. Sein junger Dichter ist nicht etwa von Beginn an ein von des Gedankens Blässe angekränkelter, komplexbehafteter Melancholiker, im Gegenteil: Wenn er sich im ersten Akt an Wald, Flur und Kindern erfreut, dann aus gesunder Liebe zum Leben – als ein Naturbursch höherer Ordnung. Das spiegelt sich direkt in seinem Gesangsstil, der ganz auf dem Unmittelbaren, Unverstellten, Authentischen basiert und lyrische Qualitäten mit souveräner Strahlkraft vereint, nicht nur in der Ossian-Arie wider. Erst als dieser Werther sich als Verlierer in einer nicht geahnten Dreiecksgeschichte wiederfindet, beginnt sein Abstieg: Der Suizid ist eher die Kurzschlusshandlung eines tief Verletzten als das unausweichliche Ende eines von Anfang an umwölkten Gemüts.

„Buchenswert“ hätte Thomas Manns kauziger Mager diesen Widerspruch wohl genannt – ein Widerspruch, der umgekehrt größeren Sinn gehabt hätte: wenn also ein pathosliebender, an sich selbst leidender Werther (etwa Jonas Kaufmann) auf eine natürlich-pragmatisch agierende Lotte gestoßen wäre, wie sie Garanča hätte sein können... Daniel Schmutzhard passt trotzdem gut dazu, als an sich kreuzbraver Kerl Albert, dem nur zuletzt der Kragen zu platzen droht, und Elena Tsallagova verbreitet als Sophie mit kristallklaren, sauber und schön modellierten Phrasen idealtypisch mädchenhaften Liebreiz. Festspieldebütant Alejo Pérez leitet mit klarer und eleganter Zeichengebung das Mozarteum-Orchester, das sich in der leicht gekürzten Aufführung teilweise nobel an die Stimmen anschmiegt, bei manchen Fortissimoausbrüchen aber die nötige Élégance vermissen lässt und zu direkt, ja sogar etwas brachial tönt. Aber man kann ja mal ein Auge zudrücken, sei es nun schwarz oder blau.

Weitere Termine: 18. und 22. August
Auf Ö1: 22. August, 19.30 Uhr.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.08.2015)

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