Musikverein: Fedosejews Tschaikowsky-Hochamt

(c) Clemens Fabry
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Der ehemalige Chefdirigent kehrt ans Pult der Symphoniker zurück und demonstriert seinen heute unvergleichlichen Rang als Interpret russischer Symphonik.

Ein solches Konzert nimmt unter den scheinbar „gewöhnlichen“ Abonnementkonzerten im reichen Wiener Musikbetrieb eine Sonderstellung ein. Wladimir Fedosejew zählt heute zu den raren Erscheinungen unter den Dirigenten: Vergleichbar in Wahrheit nur noch mit Jewgeni Mrawinsky kehrt er als Hohepriester der russischen Symphonik immer wieder und demonstriert, wie das ist, wenn ein bedeutender Interpret sich jahrzehntelang unermüdlich um die Arbeit an bestimmten Werken bemüht – und nicht müde wird, Partituren, die andere als „leichte Beute“ für sicheren Effekt achtlos und unreflektiert wiederkäuen, immer neu zu lesen.

Wenn Fedosejew die Vierte Tschaikowsky dirigiert, entdecken die Musikfreunde hörend mit ihm bei jeder Wiederkehr ungeahnte Details – inmitten seiner seit Langem fest gefügten interpretatorischen Gestaltung, die auf diese Weise ungemein lebendig und variantenreich bleibt.

Fedosejew konzentriert sich auf die Hintergründe der Musik, hinterfragt jeden wirkungsvollen Schlag, jede „schöne Melodie“ und ordnet alles der klanglichen Erzählung unter, die allerdings nicht davon handelt, wie virtuos ein Orchester sein technischen Vermögen zur Schau zu tragen weiß.

Jeder Takt, jeder Ton stehen im Bann von Tschaikowskys sehr persönlicher Leidensbotschaft. Der russische Meister führt in seinen symphonischen Werken die Idee der Programm-Musik, der „erzählenden“ Symphonie lang vor Gustav Mahler und Dmitri Schostakowtisch schon zu einem einsamen Höhepunkt. Freilich versteckt er die erzählerische Aussage hinter einem Paravent klassizistischer Formgebung, der leicht dazu verleitet, über Ausdrucksmomente hinwegzumusizieren und sich mit dem schönen Schein zu begnügen.

Schon die in mehreren Wellen ansteigende, immer intensiver werdende melodische Botschaft des Hauptthemas im ersten Satz ist unter Fedosejews Händen von größter dynamischer Differenzierung. Erst in solcher Sicht entfalten die wiederkehrenden Schicksalsschläge des einleitenden „Fatum“-Motivs ihr ganzes Gewicht; das dann nicht von oberflächlich theatralischem, sondern von durchaus tragischem Zuschnitt ist.

Die Wellen der Leidenschaft

Fedosejew durchschaut zudem als einziger Interpret unserer Tage die Janusköpfigkeit des Mittelsatzes, die sich wie Innen- und Außenansicht derselben Geschichte ausnehmen, basierend auch auf identischem Motivmaterial. Die Symphoniker modellieren sie ohne Pause hintereinander – mit herrlich geschmeidigen Bläsersoli und klanglich sanft modelliertem Streicherton. Das Pizzicato im Scherzo tönt wirklich wie ein Satyrspiel auf die introvertierten Gesangsphrasen des zweiten Satzes. – Überhaupt spürt eine solche Wiedergabe die doppelten Böden eines solchen Werks auf: Nicht immer, wenn fortissimo in Dur gespielt wird, herrscht Zufriedenheit: Eher schon begreift man, wie das Individuum unter allzu viel Jubelstimmung leidet und verzweifelt. Zuletzt herrscht triumphales Getöse – in dem freilich das Subjekt zu verschwinden droht . . .

Feinsinnig schattiert und immer wieder in subtile Pianotöne zurückgenommen begleiten die Symphoniker an diesem Abend auch Arabella Steinbacher in Tschaikowskys Violinkonzert. Der eher zarte Ton, den diese Künstlerin ihrer Stradivari entlockt, nimmt auch durch wiederholten Überdruck im tiefen Register nie wirklich die satten Farben an, die der dunkel grundierten Melodik dieser Musik adäquat wären. Immerhin: Was Intonationssicherheit und klare Diktion betrifft, ist Steinbachers Spiel von bemerkenswerter Sicherheit, die sie in der Zugabe – Eugène Ysaÿes suggestive „Dies irae“-Paraphrase aus der Zweiten Solosonate – ganz auf sich selbst konzentriert exzellent nutzen konnte.

Das Musikverein-Programm wird am 16. Oktober noch einmal wiederholt. Fedosejew kehrt als Tschaikowsky-Dirigent demnächst noch einmal nach Wien zurück: Im Konzerthaus dirigiert er die Erste Symphonie und vorab noch einmal das Violinkonzert – mit Julian Rachlin (30. November).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.10.2015)

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