Leiden vor dem Wunderbaum der Seele

„Werther“ an der Staatsoper, wieder mit Garanča und, neu, Polenzani: respektables Repertoiretheater.

Bei Goethe siecht der Unglückliche noch einen halben Tag dahin, bis ihn der Tod erlöst. In Jules Massenets „Werther“ sind es kaum zwanzig Minuten, aber sie geben ein quälendes Bild ab: Charlotte ist zu ihm geeilt, gesteht dem Sterbenden doch noch ihre Liebe – und Elīna Garanča bedeckt seinen blutüberströmten Körper auch noch mit heißen Küssen. Erste Hilfe sieht anders aus, aber dass es für diese Beziehung gleichsam immer schon zu spät war, daran kann kein Zweifel bestehen.

Überhaupt ist es eine verhängnisvolle Affäre, deren Verlauf sich an der Wiener Staatsoper nun wieder studieren lässt, in Andrei Serbans konkret-realistischer Inszenierung, die sich vor, auf und rund um einen im Wechsel der Jahreszeiten sich wandelnden Riesenbaum vollzieht. Irgendwann in den Fünfzigern, zwischen Mief und Befreiung, inmitten von Petticoat und Nierentisch, Nervositätszigaretten und Fernsehablenkung spielt dieser „Werther“ – und es wimmelt von heimlich-unheimlichen Lauschern und Beobachtern, in die sich die Protagonisten verwandeln. So schafft sich auch Charlotte unlauteren Einblick in Werthers Gefühle.

In Pflichten und Rollen gedrängt

Es ist Garančas erster Opernauftritt seit den Wiener „Rosenkavalier“-Vorstellungen im April und der Auszeit wegen ihrer todkranken, dann im Juli verstorbenen Mutter und Gesangslehrerin. So konnte sie nicht wie geplant bei den Salzburger Festspielen, sondern erst jetzt, nach zweieinhalb Jahren „Werther“-Pause, zu jener Partie, in jene Inszenierung zurückkehren, in der sie 2005 einen Triumph gefeiert hatte. Ihr ausgereiftes Porträt ist vom ersten Moment an wieder voll da: Mit samtig und voll tönendem Mezzosopran zeichnet sie eine Frau, die in Pflichten und Rollen gedrängt wird – und Werthers Schwärmerei, bewusst oder unbewusst, durchaus genießt, füttert, benützt.

Als Werther gab Matthew Polenzani sein Wiener Rollendebüt. Seinen hell timbrierten, vom Lyrischen her kommenden Tenor setzt er nach kleinen Anlaufschwierigkeiten schlank und stilsicher ein. Statur und Darstellung machen klar, dass bei diesem Werther die poetische, zu schönem Leiden tendierende Seele hinter einem etwas robust anmutenden, durchschnittlichen Äußeren steckt – und deshalb dort wohl auf den ersten, oberflächlichen Blick gar nicht vermutet würde. Das spiegelt Hila Fahima als sauber tönende, quicke neue Sophie, deren erblühende Teenagerliebe unbemerkt bleibt. Eher routiniert als inspiriert das Orchester unter Frédéric Chaslin: Steigerungspotenzial für die Folgevorstellungen.

Noch am 14., 16. (mit Livestream), 20.11., 19.30 h. wiener-staatsoper.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.11.2015)

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