Klavierpoesie und "Chorus Mysticus"

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Schumann in Musikverein und Konzerthaus: Symphonisches unter Haitink, großartige "Faust"-Szenen.

Hier ist die Aussicht frei“, singt Doctor Marianus – und Christian Gerhaher setzt die Silben mit gleichsam kalligrafischer Präzision. Es ist eine Schlichtheit höherer Ordnung, die in der edlen Kantilene seines schlanken, beredten Baritons zum Tragen kommt: Der zarten Feststellung wohnt die Kraft eines Befehls inne. Für Bombast hat Robert Schumann keinen Sinn. Statt der äußeren Verzückung etwa bei Mahler, der die Schlussszene des „Faust“ in der 8. Symphonie mit enormem Aufwand der Mittel komponiert hat, hören wir eine zu innerer Ruhe gekommene, liedhaft reine Ekstase, die mit Harfe, von der Oboe angeführtem Holz und zarten Streichern auskommt, wenn die „Höchste Herrscherin der Welt“ angerufen wird. Und die Wiener Symphoniker grundieren sie mit exquisitem Wohllaut.

Unüberbietbar: Christian Gerhaher

Bezeichnend, dass Gerhaher bei den Worten „Gnade bedürfend“ die tiefere Variante wählt – und sie dadurch von einer Gewissheitsgeste in eine musikalisch an den Wolfram im „Tannhäuser“ gemahnende, schmerzlich-flehentliche Bitte verwandelt.

„Das Ganze müsste man dem Publikum nicht als Oper oder Singspiel oder Melodram, sondern als ,Dramatisches Gedicht mit Musik‘ ankündigen. Es wäre etwas ganz Neues und Unerhörtes.“ So schrieb Robert Schumann über seinen „Manfred“ nach Lord Byron, ein zwischen den Genres fluktuierendes Werk, von dem heute meist nur noch die Ouvertüre im Konzertleben überdauern konnte. Das Verwischen der Gattungsgrenzen und neue Zusammenführen aller Disziplinen im Sinn einer „progressiven Universalpoesie“ hatte die Romantik sich vorgenommen und dabei auch die Kraft des Fragmentarischen entdeckt. Manfreds nicht minder grüblerisch-suchenden Wahlverwandten Faust holte Schumann in einer Folge dramatischer Schlaglichter auf die imaginäre Bühne: Seine „Szenen aus Goethes Faust“ lassen in der Gretchentragödie die oft vertonten Lieder aus, beleuchten die Gefühlswelten ohne textliche Umschweife.

Am Freitag gastierte im Musikverein unter Bernard Haitink das Chamber Orchestra of Europe, ein vielseitiges, stilistisch wendiges Ensemble, das allerdings nicht im Ruf steht, den edelsten, homogensten Orchesterklang zu entfalten. Aber Schönheit liegt ja auch im sinnerfüllten Vortrag. Diesen hat der 86-jährige Haitink mit kapellmeisterlich-ökonomischer Gestik erzielt – in Schumanns düsterer „Manfred“-Ouvertüre und nach der Pause in einer festlich-straffen, differenzierten Wiedergabe der 2. Symphonie. Ferner im Klavierkonzert, bei dem im wundersamen Einverständnis zwischen ihm und Murray Perahia die etwas kantige Klarheit des Orchesters mit der poetischen Klangsättigung des Klaviers ausdrucksvoll ineinandergriffen.

Tags darauf im Konzerthaus die sich vor allem nach der Pause bis hin zum Pianissimo-„Chorus Mysticus“ in der Wirkung noch steigernden „Faust“-Szenen mit den aufmerksamen Symphonikern unter Daniel Harding: Gerhahers poetische Dringlichkeit in der Baritonpartie schien unüberbietbar, Christiane Karg war ein Gretchen von nobler Klangreinheit, weiters ragten Christina Landshamer und Andrew Staples hervor. Hingebungsvoll tönten die Singakademie und der Staatsoper-Jugendchor. (wawe)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.11.2015)

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