Gegen falsche Verdächtigungen in der Musik

AUSZEICHNUNG FUER VLADIMIR FEDOSEJEV
AUSZEICHNUNG FUER VLADIMIR FEDOSEJEV(c) APA (ROLAND SCHLAGER)
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Das Tschaikowsky Orchester unter Fedosejew sprach im Konzerthaus seinen Namenspatron frei.

Neudeutungen wohlbekannter Partituren, die diese Bezeichnung verdienen, sind in Wahrheit wohl nur dann möglich, wenn ein Orchester mit seinem Dirigenten aufs Innigste verschmolzen ist. Man erinnere sich an die Berliner Philharmonikern in der Ära Herbert von Karajans oder die (damals noch so genannten) Leningrader unter Jewgeni Mrawinsky. Zu derartigen jahrzehntelange Partnerschaften gibt es heute nur ein Pendant: die Verbindung zwischen Wladimir Fedosejew und seinem Tschaikowsky Symphonie-Orchester aus Moskau.

Als man Ende der Achtzigerjahre hierzulande auf diese ungewöhnliche Verbindung aufmerksam wurde, war der Maestro schon knapp eineinhalb Jahrzehnte Chefdirigent. Und wenn Musikfreunde schon damals den Eindruck hatten, diese Partnerschaft beschere uns Interpretationen von höchster geistiger Durchdringung bei gleichzeitiger atemberaubend perfektionierter Spieltechnik, muss man heute bekennen: Die technische wie die interpretatorische Vervollkommnung scheint immer noch weiter voranzuschreiten.

Das wundersame Paradoxon

Das entspricht dem Phänomen, das bei den eingangs erwähnten Künstlern schon zu den Paradoxa gehörte. Und es sorgte am Montagabend im großen Konzerthaussaal wieder für Jubel. Das Tschaikowsky-Orchester widmete sich seinem Namenspatron, zauberte die Stimmungswelten von dessen Erster Symphonie in größtmöglicher Vielfalt hervor und trug das Solo von Julian Rachlin im Violinkonzert so behutsam, dass der Geiger sich völlig gelassen vor allem in den zarten, behutsamen, stillen Regionen dieser Musik entfalten konnte.

Die zum Teil nur gehaucht wirkenden, dennoch bombensicheren Arpeggien und Flageolett-Töne in der großen Kadenz des Stirnsatzes klangen wie ein Motto dieser ungewöhnlichen Wiedergabe eines viel gespielten, aber auch viel geschundenen Meisterwerks: Wie aufgedonnert und roh bringt man dieses Konzert in der Regel zum Klingen – und welch einen außerordentlichen, introvertiert-berührenden Moment markierte diesmal der Einsatz der Reprise, als ein ätherisches Flötensolo über den vom Solisten angegebenen Harmonien das Hauptthema wiederkehren ließ . . .

Offenbar haben die Musiker diesmal einen Gegenpol zu einer Missinterpretation markiert, die Tschaikowskys Werk (und nicht nur dieses Konzert) schon seit Anbeginn geradezu verfolgt: Nie hätte sich Kritikerpapst Eduard Hanslick bei Rachlin und Fedosejew dazu verleiten lassen, von einem geradezu barbarischen Volkstanzfinale zu sprechen.

Konzerte wie dieses sind bei aller Schönheit und allem Wohlklang höchst wichtige Befreiungsschläge. Es war tatsächlich zuletzt Mrawinsky, der den russischen Nationalkomponisten so konsequent von jeglichem Lärm- und Kitschverdacht freizusprechen wusste . . .

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.12.2015)

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