Nikolaus Harnoncourt zieht sich zurück

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Mit einem offenen Brief an sein Publikum verabschiedet sich der Dirigent von der Konzertbühne. Seine Kräfte lassen es nicht mehr zu, sich weiterhin der Belastung von Auftritten auszusetzen.

Die beiden Bach-Konzerte im Rahmen des Concentus-Musicus-Zyklus im Wiener Musikverein an diesem Wochenende wird Erwin Ortner dirigieren. Die Abonnenten wussten es. Nikolaus Harnoncourt ist erkrankt und musste die Auftritte absagen. Doch dem Programmheft lag das Faksimile eines handgeschriebenen Briefes bei, in dem Harnoncourt seinen treuen Hörern für ihre Abenteuerlust dankt („Wir sind eine glückliche Entdeckergemeinschaft geworden“) und bittet, dem Ensemble die Treue zu halten. Der Zyklus werde „in seinem Sinne weitergeführt“.

(c) Musikverein

Er selbst werde nicht mehr an der Spitze des Concentus stehen: „Meine körperlichen Kräfte gebieten eine Absage meiner weiteren Pläne.“ Dass sich ein Künstler, der bei jedem Auftritt all seine Kraft und Energie zu bündeln verstand, solchen Belastungen nicht mehr aussetzen möchte, ist wohl auch dem engagiertesten Harnoncourt-Verehrer verständlich.

Notorischer Widerspruchsgeist

Mit knappen, klaren Worten zog Nikolaus Harnoncourt am Vorabend seines 86. Geburtstags freilich den Schlussstrich unter eine Ära. Nicht nur für das Wiener Musikleben (300 Konzerte hat Harnoncourt allein im Musikverein dirigiert!). Sein Name gilt längst weltweit als Synonym für einen interpretatorischen Neuansatz, der die Hörgewohnheiten einer ganzen Generation von Musikfreunden entscheidend geprägt hat. Die Wiedereroberung eines jahrhundertelang verschütteten, prächtigen Repertoires und die Hinterfragung aller Hör- und Spielgewohnheiten bei Musik, die zum Dauerbestand der Programme in unseren Opern- und Konzerthäusern gehört, hat auch neue Zuhörerschichten auf die dieserart entstaubte sogenannte Klassik neugierig gemacht.

Die große Musik der Renaissance und des Barock rückte wieder ins Bewusstsein der Musikfreunde. Klassik, Romantik und die Musik der frühen Moderne, die man längst erobert und verstanden glaubte, erfuhren eine neue Beleuchtung, die zumindest dazu führte, dass Mozart-, Beethoven- oder Brahms-Interpreten sich gefallen lassen müssen, dass von einem wachen Publikum hinterfragt wird, was sie tun.

Harnoncourts Rückzug von den Podien lässt uns zurückschauen – und staunen über die Konsequenz der Karriere dieses notorischen Widerspruchsgeistes. Die Chronik des Wiener Konzerthauses weist den ersten Auftritt des Cellisten Harnoncourt kurz nach seinem 20. Geburtstag anlässlich eines Weihnachtskonzerts aus. Das Wiener Gambenquartett war schon gegründet: Harnoncourt, Eduard Melkus, Alfred Altenburger und, vom ersten Moment an unzertrennlich an der Seite ihres späteren Mannes, Alice Hoffelner.

Die Viola da Gamba war für Nikolaus Harnoncourt damals freilich noch Liebhaberei. Als Cellist verdiente er sich sein Brot bei den Wiener Symphonikern. Gern erzählt er, dass es Herbert von Karajan war, der ihn damals engagierte – notabene bereits, bevor beim Probespiel der erste Ton erklungen war. Der Maestro soll schon beim Auftritt des jungen Kandidaten gemurmelt haben: Den nehm' ich.

Der Gambist war bereits 1950 an einer Aufnahme der „Brandenburgischen Konzerte“ Johann Sebastian Bachs beteiligt, die für das Label Supraphon mit dem Chamber Orchestra of the Konzerthaus Society entstand. Die Website von Nikolaus Harnoncourt verrät mehr als ein halbes Jahrhundert später, dass es sich dabei um Mitglieder der Wiener Symphoniker gehandelt hat, denen sich der junge Gambist als Solist hinzugesellt hat.

Revolution der Hörgewohnheiten

Nikolaus Harnoncourt war auch mit von der Partie, als unter Jascha Horenstein 1954 (für VOX) die erste Aufnahme der „Brandenburgischen“ enstand, die deklariertermaßen „auf Originalinstrumenten“ musiziert wurde.

Auch zeitgenössische Komponisten waren in jener Zeit maßgeblich daran beteiligt, die Archive zu öffnen und halb oder ganz Vergessenes neu zu beleben. Paul Hindemith arrangierte Monteverdis „Orfeo“ und stellte ihn im Konzerthaus vor: Harnoncourt war mit seinen eingeschworenen Kollegen dabei, absolvierte mit ihnen dann ab 1957 im Palais Schwarzenberg, ab 1962 auch im Mozartsaal Konzerte unter dem Namen Concentus Musicus.

Dass die Revolution unserer Hörgewohnheiten zu diesem Zeitpunkt bereits in vollem Gang war, ahnte damals vielleicht nicht einmal der Spiritus rector, Harnoncourt selbst. Im Rückblick freilich lesen sich die Daten wie die Markierungspunkte eines unfehlbar ausgeklügelten strategischen Plans.

Der erste offizielle Auftritt im Musikverein war ein Festakt im Jahr 1968, bei dem barocke Untermalungsmusik gebraucht wurde. Und doch wirkt es in der Retrospektive wie ein programmatisches Signal, dass der Concentus damals als Einleitung die Toccata aus dem „Orfeo“ musizierte, danach noch Stücke von Heinrich Ignaz Franz Biber, Johann Joseph Fux und Georg Friedrich Händel?.?.?.
Es ist die Zeit der Schallplatte, der medialen Karrieren. Dank Harnoncourt kommt es zu einer gigantischen Aufforstung: Die prächtige Musik des deutschen, österreichischen und französischen Barocks, die polyphonen Meisterwerke der Renaissance – was bis dato in den Archiven schlummerte, wird plötzlich hörbar; und fördert die Lust der Musikfreunde, solche Klänge auch live erleben zu dürfen.

Vom Cello- ans Dirigentenpult

Editorischen Großtaten wie der Gesamtaufnahme sämtlicher Bach-Kantaten, die Harnoncourt im Verein mit Gustav Leonhardt nach der Unterzeichnung des Exklusivvertrags mit Teldec, 1971, zu realisieren beginnt, stehen die wachsenden Engagements Harnoncourts in den Konzertsälen und bald auch in Opernhäusern gegenüber.

1971 gibt es bei den Festwochen den ersten Originalklang-Musiktheaterversuch: Monteverdis „Il Ritorno d'Ulisse in Patria“ kommt – mit dem Concentus Musicus im Orchestergraben – heraus. Harnoncourt leitet noch vom Gamben-Pult aus. Doch im Jahr darauf präsentiert man diesen „Ulisse“ in Mailand: Und da steht der Maestro erstmals am Dirigentenpult.

Das erste Symphonieorchester, das ihn engagiert, ist das Amsterdamer Concertgebouw-Orchester, mit dem er 1980 dann auch im Wiener Konzerthaus gastiert. Und 1983 eine legendäre „Matthäuspassion“ realisiert – nicht nur auf Originalinstrumenten lässt sich Harnoncourts interpretatorischer Wille offenbar realisieren.

Der Durchbruch ist längst geschafft, der Rest Interpretationsgeschichte: Von einem halbherzigen Erstversuch mit Mozart und Schubert anno 1984 abgesehen, rufen – wie denn auch anders? – die Wiener Philharmoniker als Letzte, sind dann aber – wie denn auch anders? – treue Harnoncourtianer. Bei Mozart scheiden sich immer wieder die Geister, bei Bruckner staunen auch Kenner über die Ausdruckskraft und die formale Beherrschtheit von Harnoncourts Interpretationen. Beim „Neujahrskonzert“ feiert man den Propheten eines spezifisch „österreichischen“ Tons, den man dann im Violinkonzert Alban Bergs zum allerersten Mal artikuliert zu hören meint.

Außerdem: Bizet, Offenbach, Smetana, Gershwin, Strawinsky; und doch immer wieder Händel. Vor allem Bach.

Dass das Musizieren nun ein Ende gefunden hat, wird nicht gleichbedeutend damit sein, dass einem Nikolaus Harnoncourt je langweilig werden könnte: Man ahnt die Schlangen von Wissbegierigen voraus, die sich vor seinem Haus bilden werden, um seinen Rat einzuholen...

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.12.2015)

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