Johannes Brahms und das kleine Glück der Details

GERMANY HR SYMPHONY ORCHESTRA
GERMANY HR SYMPHONY ORCHESTRA(c) EPA (Ingo Wagner)
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Alle Brahms-Symphonien mit Paavo Järvi und der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen: detailreich, herb und klug. Doch das Gefühl für das große Ganze wollte sich nicht durchwegs einstellen.

„Und noch ein Löffel Rahm“ – so hat Franz Molnár einmal die ungarische Küche in einer einzigen Phrase zusammengefasst. In seinem Budapester Lieblingsrestaurant galt nämlich: War ein Gericht für einen Stammgast wie Molnár bestimmt, klatschte die Besitzerin, das Fräulein Spiegel, stets noch einen weiteren Löffel Sauerrahm in die ohnehin schon sämige Sauce von Paprikás oder Paprikás Csirke, also Rahmgulasch und Paprikahendl.

Auf die Dosierung kommt es an. Und bei dieser hat sich Paavo Järvi jedenfalls im Trio des ersten der „Ungarischen Tänze“ von Brahms und besonders im sechsten Tanz vertan. Er übertrieb bei Brahms' Flirt mit dem Feuer und der Spontaneität magyarischen Musikantentums die Spiegel'sche Großzügigkeit bis zur Groteske, indem er sozusagen mehrfach und mit dem Schöpflöffel in den Rubatotiegel langte.

Regelrechte Bocksprünge zwischen gummiartig zerdehnten, dann wieder beschleunigten Abschnitten, wenn auch tadellos einstudiert – als müsste die Tonspur zu einem alten Disney-Trickfilm geliefert oder in ein paar Minuten eine Art Freiheit wieder gewonnen werden, die man sich bei den vorangegangenen Symphonien seriöserweise versagt hatte. Es war der merkwürdig missglückte Abschluss zweier insgesamt kluger, anregender Abende, die vom Publikum mit Jauchzen goutiert wurden, aber doch auch ungelöste Rätsel und uneingelöste Versprechen zurückließen.

Bremer in relativ kleiner Besetzung

Einem Deutungsklischee nach war das der norddeutsche, herbe Brahms, den die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen da am Wochenende ins gewöhnlich konziliantere, klanglich einschmeichelndere Wien brachte. In Wahrheit verlief die hier gültige interpretatorische Scheidelinie jedoch nicht entlang eines musikalischen Weißwurstäquators, sondern folgte der „historischen Informiertheit“: Die Bremer spielen in relativ kleiner Besetzung (zehn erste Violinen, vier Kontrabässe), mit vibratoarm schlankem Ton und mit teils recht forschem Zugriff, mit kleinteiliger Phrasierung – und nicht zuletzt in alter deutscher Orchesteraufstellung, die gar nicht oft und hoch genug gepriesen werden kann. Am besten lassen sich die Vorzüge dieses Zugangs wohl auf CD genießen – dann fällt auch die heikle Frage nach der Konzertdramaturgie weg: Denn alle vier gewichtigen Brahms-Symphonien an zwei Abenden lassen sich nicht ohne Verluste anordnen. (Die Kombination von Dritter und Erster passt noch am ehesten.) Zudem stößt das interpretatorische Konzept der Kammerphilharmonie in einem für ihre Ensemblestärke und Musizierweise zu großen Saal an seine Grenzen oder büßt zumindest in den hinteren Reihen überproportional an Transparenz und Griffigkeit ein. Paavo Järvi lässt sich's dennoch nicht verdrießen und schwört die Bremer auf eine entdeckerfreudige Durchleuchtung der Partituren ein, die ihnen ohnehin liegt: Nicht oft vernimmt man so deutlich, wie Brahms unregelmäßige Phrasen baut und deren Bestandteile dann auf andere Taktteile verschiebt (Erste), wie auch über Pausen hinweg melodische Linien weitergehen (Zweite) – oder wie überhaupt Strenge und Nachgeben zusammenspielen können (Vierte).

Pauken deckten die Bläser zu

Dass auch alle Expositionswiederholungen beachtet werden, ist nicht nur Ehrensache, sondern betont auch die ausgeklügelte Verwischung der formalen Nahtstellen, die Brahms in der wiederholungslosen Vierten betreibt. Nur selten geriet Järvi manches zu dick (die donnernden Paukenschläge am Beginn der Ersten deckten die Bläserlinien zu), manche Tutti lärmten etwas wegen des nicht ideal flexiblen Gesamtklangs, und mehrfach erwiesen sich seine Tempi als zu frisch, um auch die kleinen Noten ohne Hektik und Verwaschenheit mit Bedeutung erfüllen zu können. Dennoch, diesmal lag das Glück in den Details, der Teufel aber in deren Summe: Ein Gefühl für das erhebende, große Ganze wollte sich nicht durchwegs einstellen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.12.2015)

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