Musikalische Erinnerungen an die Zeit nach der Zukunft

(c) APA (Herbert P. Oczeret)
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Das RSO und der Singverein stellten im Musikverein unter Wladimir Fedosejews Leitung Alfred Schnittkes 1983 bei den Festwochen uraufgeführte „Faust“-Kantate, „Seid nüchtern und wachet“, noch einmal zur Diskussion. Aus der Ouvertüre ist ein Denkmal der Postmoderne geworden.

Für manchen Wiener Musikfreund mag das ein Déjà-entendu-Erlebnis gewesen sein. Im Abschlusskonzert der Wiener Festwochen 1983 wurde das Auftragswerk „Seid nüchtern und wachet“, eine „Faust“-Kantate von Alfred Schnittke, uraufgeführt. Das war damals eine Großtat, denn es brach einen Bann. Dass Schnittke den Auftrag erhielt, war schon bemerkenswert in einem Klima, in dem nach wie vor recht rigide Ansichten darüber herrschten, was förderungswürdige Neue Musik sein könne (ja: dürfe!), und was nicht.

Im offiziellen Wiener Musikleben hatte man vom Schaffen des Wolgadeutschen Schnittke, der nach dem Zweiten Weltkrieg seine Studien in Wien begonnen hatte, so gut wie keine Kenntnis genommen. Ein oder zwei Concerti aus seiner Feder waren mehr oder weniger unbemerkt verklungen – eines davon hatte Schnittkes Lebensfreund Gidon Kremer durchgesetzt, der bereits 1981 beim ersten Kammermusikfestival in Lockenhaus auf diese Musik jenseits aller stilistischen Reglementierungen aufmerksam gemacht hatte. Mit der Vertonung eines Kapitels aus der mittelalterlichen „Historia von Doktor Johann Fausten“ war Schnittke dann freilich ein Coup gelungen. Seine ureigene musikalische Stilmischung aus neobarocken Formelementen, gleitenden Cluster-Harmonien und freien, suggestiv gemalten Klangbildern gab der Geschichte vom letzten Tag des Gelehrten, den im wahrsten Sinne des Wortes der Teufel holt, ein wahrhaft unerhörtes Klanggewand.

Die Erzählungen vom Abschiedsmahl reflektieren mehr als einmal Bach'sche Passionsmusiken, die Höllenfahrt selbst wächst sich zu einem veritablen Todestango aus, dessen Musicalpower diesmal bei Elisabeth Kulman und dem mit enormem Engagement und Kraft agierenden Singverein (einstudiert von Johannes Prinz) bestens aufgehoben war. Da lag der tosende Schlussapplaus schon zum Greifen nah; musste sich freilich noch kurz gedulden, denn die Kantate endet mit einem besinnlich moralisierenden Schlussquartett, in dem sich die Solostimmen noch einmal vereinigen: Kulmans Alt ergänzt Counter Matthias Rexroth – schon zuvor mephistophelisch grell – in der höchsten, Tenor Steve Davislim und Bariton Adrian Eröd, der Faustens Abschiedsworte sonor zum Klingen brachte, in der tiefen Region.

Fedosejew: Welch ein Animator!

Das RSO zündete dem packenden Hörspiel unter Wladimir Fedosejews Leitung kräftig unter. Welch ein Animator der russische Maestro nach wie vor ist, war vor der Pause schon zu bewundern: Da erklang Schostakowitschs knappe Sechste auf vorbildliche Art.
Fedosejew ist kein Mann der übertriebenen Gesten, setzt der Musik nichts drauf, sondern versteht es, aus einer Partitur sozusagen von innen heraus alle Energie freizuschlagen. Dabei kommt er dann weiter als die meisten Kollegen. Über die Steigerungswellen von Schostakowitschs Musik staunt man am allermeisten, wenn sie sich scheinbar wie Naturgewalten entfalten, wenn sie über den Konzertsaal hereinbrechen wie ein Fluss, dessen Staudamm gebrochen ist: Man ahnt, was noch alles kommen wird, kann aber nie sicher sein, ob und wann das Ende erreicht ist. Entsprechend enthusiasmiert reagierte die Musikvereinsgemeinde schon zur Pause.

Im Radio: Ö1, 29. Jänner, 19.30 Uhr.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.01.2016)

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