Musikverein: Elegante, sinnliche Spätgotik

René Clemencic.
René Clemencic.(c) APA/HERBERT PFARRHOFER
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René Clemencic beschwor mit seinen Getreuen die melodische Schönheit der Musik von Alexander Agricola, um dessen Gunst einst Könige und Fürsten buhlten.

Kenner fragen sich manchmal, ob es wirklich die glanzvollen großen Stargastspiele sind, die dem Musikleben einer Stadt seine wahre Bedeutung verleihen. Dass die besten Dirigenten im Musikverein zum x-ten Mal eine Brahms-, eine Mahler-Symphonie, die „Symphonie fantastique“ zelebrieren, gehört ja beispielweise nicht nur in Wien zum Klassikalltag.

Auch wenn man die Anleihen beim weltweiten Einheitsrepertoire natürlich nicht missen möchte und sich freut, es in Konzerthaus und Musikverein in seltener Ballung gepflegt zu wissen: Eine Künstlerpersönlichkeit wie René Clemencic ist vielleicht doch an vorderster Stelle zu nennen, wenn es darum geht, die echten Spezialitäten des wienerischen Konzertlebens aufzuzählen.

Als Spiritus rector des Zyklus „Musica antiqua“ hat Clemencic jahrzehntelang für eine eminente Aufforstung der Spielpläne der Gesellschaft der Musikfreunde gesorgt. Diese Linie setzt er mit seinem Consort in der eigenen Konzertreihe im Brahmssaal fort – und verblüfft treue Verehrer wie spontane Zaungäste immer aufs Neue.

180 verschiedene Programme hat Clemencic mit seinen auf aparteste Instrumente, Spiel- und Singtechniken spezialisierten Musikanten seit Mitte der Sechzigerjahre schon erarbeitet. Wiederholt hat sich dabei wenig. Der Universalgelehrte, der demnächst seinen 89. Geburtstag feiert, schürft nach immer neuen Kostbarkeiten in den Schächten der Musikgeschichte.

Vor einem halben Jahrtausend

Vor allem belebt er die Erinnerung an Großmeister, von denen in der Regel nur Fachleute noch die Namen zu nennen wissen. Zu lang schon ist deren Zeit vergangen. Jüngst hörte man im Clemencic-Zyklus Werke von Alexander Agricola, von dem ein Johann Sebastian Bach zeitlich gesehen ebenso weit entfernt war wie wir Heutigen vom Schöpfer der „Matthäuspassion“.

Vor einem halben Jahrtausend galt den Kennern Agricola so viel wie den Bach-Zeitgenossen nicht einmal Händel oder Telemann: Er war einer von jener Handvoll genialer Musikhandwerker, die von der artifiziell vergeistigten musikalischen Wissenschaft der Spätgotik scheinbar ganz selbstverständlich zu einer (auch jenseits aller gelehrten Perfektion fassbaren) Schönheit fanden. Hörer, die bereit sind, sich zwei Stunden lang auf eine echte Zeitreise einzulassen, begreifen dank kundiger akustischer Führung heute noch, warum sich Könige und Fürsten um diesen Mann gestritten haben.

Die Sänger Markus Forster (Altus), Gernot Heinrich (Tenor) und Tom Scott Whiteley (Bass) modellierten im Verein mit Reinhild Waldek (Harfe), Thomas Wimmer und Christoph Urbanetz (Gambe) die so kunstvoll ineinander verschlungenen melodischen Linien der Chansons und Rondeaus mit jener Geschmeidigkeit, die Nachgeborene ahnen lassen, was der hohen Gesellschaft anno 1480, der solche Meisterschaft vorbehalten blieb, Genuss verschafft hat.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.02.2016)

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