Großer Verstörer: Nikolaus Harnoncourt ist tot

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Zum Tod von Nikolaus Harnoncourt, der von Wien aus die Hörgewohnheiten der Welt zu revolutionieren vermochte und vom Gründer eines Originalklang-Ensembles zu einem der meistdiskutierten Dirigenten überhaupt wurde.

Es ist erst wenige Wochen her, dass der wohl prägendste Dirigent seiner Generation das Publikum wissen ließ, er sei nicht mehr imstande, weiterhin Konzerte zu leiten. Man wiegte sich daraufhin noch in der Illusion, man könne bei dem großen alten Mann ja immerhin noch Erkundigungen aller Art einholen, man wisse ihn als Ratgeber und weise Führungsfigur unter uns. Am Sonntagnachmittag kam die Meldung: Nikolaus Harnoncourt ist 86-jährig gestorben.

Die Klassikwelt hat also jenen Mann verloren, der wie vielleicht kein anderer die Aufführungsgeschichte der vergangenen Jahrzehnte geprägt und den Geschmack einer ganzen Hörergeneration mitgeformt hat.

Es ist schon so: Wer unter Kennern in jüngster Zeit den Namen Mozart aussprach, dachte Harnoncourts interpretatorische Funde mit, wer Bach sagte, hatte im Hinterkopf, dass dieser Mann im Verein mit seinem Kollegen Gustav Leonhardt als Erster sämtliche erhaltenen Kantaten des Thomaskantors für Schallplatte einspielte. Wer über die Welle an barocken Opern staunte, die nach jahrhundertelanger Enthaltsamkeit über die internationalen Opernhäuser schwappte, wusste doch, dass diese ohne die Wiedergewinnung von Claudio Monteverdis theatralischem Feuergeist durch Nikolaus Harnoncourts Pioniertaten niemals in jener Intensität herangerollt wäre.

Dabei hat alles quasi im Hinterstüberl begonnen. Geboren am Nikolaustag des Jahres 1929, hat der Spross einer Adelsfamilie kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Salzburg und Wien Musik studiert. Als Schüler des philharmonischen Cellisten Emanuel Brabec erhielt er 1952 eine Cellistenstelle bei den damals von Herbert von Karajan geführten Wiener Symphonikern.

Karajan war sogleich fasziniert

Doch schon hier stockt man, weiß man doch, wie gern Harnoncourt selbst die Geschichte seines Probespiels erzählt, das keines war: Karajan als Vorsitzender der Kommission soll nicht einmal den ersten Ton abgewartet haben, sondern den neuen Mann schon aufgrund der Art, wie er hereinkam und sich hinsetzte, taxiert haben: „Den nehm ich“, soll er gemurmelt haben. Dass Harnoncourts Auftreten, seine bloße Erscheinung, fesselnd wirkte, dass man sich seiner Persönlichkeit schwer entziehen konnte, war also schon Anfang der Fünfzigerjahre evident.

Parallel zu seinem Orchesterdienst bei den Symphonikern arbeitete Harnoncourt mit Gleichgesinnten wie Eduard Melkus oder seiner späteren Frau Alice, aufbauend auf den gemeinsamen Studien bei Josef Mertin, an der Herausbildung eines an der historischen Wahrheit orientierten Aufführungsstils. Und es war auch in diesem Kontext offenbar sogleich klar, wer hier den Ton angeben würde. Harnoncourt gründete das Ensemble Concentus musicus, mit dem er anfangs gegen heftige Widerstände, später geradezu abgöttisch verehrt, zunächst barockes Repertoire erarbeitete.

Die klanglichen Ergebnisse waren bahnbrechend und wurden bald auch auf Schallplatten dokumentiert. Prägnante Einspielungen wie die der großen Bach-Passionen oder der h-Moll-Messe erhielten im Handumdrehen alle denkbaren Schallplattenpreise. Das mehrte den Ruhm des Concentus in aller Welt und führte zuletzt auch in Wien zu höchster Anerkennung: Der Concentus pflegte über Jahrzehnte hin einen eigenen Abonnementzyklus im großen Musikvereinssaal, den zu besuchen bald zum Statussymbol wurde, eine Art neues Philharmonisches, dessen Repertoire bald nicht nur auf die sogenannte Alte Musik und Barockes beschränkt bleiben sollte.

Der Dirigent Nikolaus Harnoncourt war geboren, als der Künstler den Platz als Cellist, von dem aus er den Concentus nach altem Brauch geleitet hatte, mit jenem am Dirigentenpult vertauschte. Da seine theoretischen Funde, die er auch als Buchautor wiederholt publizierte, vor jüngerem Repertoire nicht haltmachten, holten bald auch „romantische“ Symphonieorchester den Klang-Revoluzzer in die großen Konzertsäle.

Das Concertgebouw in Amsterdam machte den Anfang, die Berliner und zuletzt doch auch die Wiener Philharmoniker setzten nach – und umarmten ihn dann völlig: Zweimal vertrauten sie ihm das Neujahrskonzert an, und in ihrem intimsten Repertoire, bei Schubert und Alban Berg, erzielten sie mit ihm die höchste Harmonie. Harnoncourts Repertoire hatte sich rasch bis hin zu Brahms, Bruckner und in den letzten Jahren auch in Richtung musikalischer Moderne erweitert. Bartók, Strawinsky, Gershwin gar: Harnoncourt garantierte in allen Bereichen für frische, ungewöhnliche Hörerfahrungen.

Er hat niemanden kaltgelassen

Womit er zum wichtigen Katalysator wurde: Neues Publikum erfreute sich an der Energetik seiner Zugänge, junge Sänger und Instrumentalisten liebten die bildhaften Vergleiche, mit denen er in den Proben engagierte Leistungen aus ihnen herauszuholen wusste. Erfahrene Hörer wiederum begannen staunend ihre Sichtweisen zu hinterfragen. Kaltgelassen hat Nikolaus Harnoncourt jedenfalls niemanden.

Sein wichtigstes Verdienst war es wohl, die sogenannte Klassik wieder zum Objekt heftiger Diskussionen gemacht zu haben. Man hörte sich Mozart-Aufführungen nicht nur an, wenn er dirigierte, man sprach und diskutierte danach sozusagen notwendigerweise über die Interpretation. Folgerichtig sprach man dann meist bald über Mozart statt über Harnoncourt. Dergleichen gelingt ja, weiß Gott, nur den wenigsten Interpreten.

Historisch informiert, aber heutig

Die Opernhäuser hatte sich der Maestro bereits in den Siebzigerjahren erobert, indem er mit Jean-Pierre Ponnelle die drei großen Monteverdi-Musiktheaterwerke, „Orfeo“, „Il ritorno d'Ulisse in patria“ und die „Krönung der Poppea“ szenisch erarbeitete. Mit dieser legendären Trias ging man dann von Zürich aus auf Tournee. Die Videodokumente dieser Großtat geben bis heute beredtes Zeugnis von Harnoncourts Raffinement: Ponnelle hat es nämlich verstanden, dem akustischen Erlebnis eine kongeniale Optik zur Seite zu gesellen. Auch sie griff zurück auf alle zugänglichen historischen Informationen – und doch war das Ergebnis neu, aktuell, heutig.

Diese einzigartige Brückenfunktion hat Nikolaus Harnoncourt stetig auszubauen gewusst. Ob riskante Begegnungen auf diesem Weg – etwa jene mit der philharmonischen Mozart-Tradition an der Wiener Staatsoper in den späten Achtzigerjahren oder ein „Zauberflöten“-Versuch mit dem Concentus musicus bei den Salzburger Festspielen – als gelungen oder gescheitert bewertet wurden, spielte keine Rolle, solange die Gleichgültigkeit, der Schlendrian alter Gewohnheiten ausgetrieben wurde.

Bei alledem verlor Harnoncourt seine Noblesse auch unkritischen Lobrednern gegenüber nie. Wer da meinte, ihn durchschaut zu haben, staunte immer wieder aufs Neue: Mag manches verwirrend, ja, verstörend geklungen haben; es klang mit Sicherheit bei jeder Begegnung wieder anders als das letzte Mal.

Es kann leicht sein, dass den vielen Tondokumenten, die dieser Künstler hinterlässt, jenes verwirrende Harnoncourt'sche Immer-anders-Sein eingebrannt ist, dass man sogar das, was da ein für alle Mal festgehalten scheint, immer neu hört. Ein Widerspruchsgeist wie dieser stirbt nämlich nicht.

ESSENZIELLE CD- UND DVD-TIPPS

Monteverdi-Zyklus. Die drei Monteverdi-Opern („Orfeo“, „Ulisse“, „Poppea“) in der Inszenierung von Jean-Pierre Ponnelle markierten eine Wende. Das Renommee des Dirigenten steigerte sich durch die internationale Vermarktung der richtungsweisenden Wiederbelebung barocker Theaterlust enorm.(DG)

Bachs „Matthäuspassion“ können Verehrer von Harnoncourts frühem, scharfkantigem Stil in der Erstaufnahme mit Kurt Equiluz genießen. Oder man bevorzugt die weichere, harmonische, späte Einspielung mit Christoph Prégardien – und Bachs Manuskript als PDF-Faksimile zum Mitlesen. (Teldec)

Salzburger Festspiele 2009.Der Videomitschnitt des Eröffnungskonzerts dokumentiert, zu welchen Höhen die Zusammenarbeit mit den Wiener Philharmonikern führen konnte: Schuberts große C-Dur-Symphonie hörte man kaum je so harmonisch, so geschlossen und dennoch dramatisch. (CMajor)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.03.2016)

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