Thomas Hengelbrock: Wie Händel über Venedig staunte

Ein Romantiker mit großer Liebe zum Barock: Thomas Hengelbrock.
Ein Romantiker mit großer Liebe zum Barock: Thomas Hengelbrock.(c) Theater an der Wien/Florence Grandidier
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„Venedig war um 1700 das Opernzentrum der Welt“, sagt Thomas Hengelbrock. Er dirigiert Händels in Venedig uraufgeführte „Agrippina“ im Theater an der Wien.

Für Thomas Hengelbrock ist es eine Rückkehr: „Es ist ja lang her, dass ich Chefdirigent an der Volksoper war“, räsoniert er im Gespräch anlässlich der Probenarbeit zur Premiere von Händels „Agrippina“ im Theater an der Wien: „Ich freue mich sehr, wieder hier zu arbeiten“ – und auf Wiener Pläne in den kommenden Jahren.

Wien hat eine weite Strecke der künstlerischen Entwicklung dieses Dirigenten verpasst. Man kennt ihn hier eher als Spezialisten für Barockmusik denn als universellen Maestro, der beispielsweise als Chefdirigent des NDR-Orchesters am 11. Jänner kommenden Jahres die Hamburger Elb-Philharmonie eröffnen wird und der, wie er gern erzählt, durchaus in der romantischen Tradition sozialisiert worden ist, „zwischen Schumann und Gustav Mahler“. So grenzt er selbst das Revier ein, aus dem er „mit einer Art Befreiungsschlag“ ausgebrochen ist, der damals „eher einer Krise geschuldet war: Mit Anfang zwanzig wusste ich, dass es so wie bis dahin nicht weitergehen sollte.“

Begegnungen mit Gustav Leonhardt und Nikolaus Harnoncourt, in dessen Concentus musicus er eine Zeit lang Geige spielte, wiesen neue Wege, die zur Gründung des Balthasar-Neumann-Chors und des gleichnamigen Ensembles führten, in dem übrigens wie er selbst „alle Musiker modern ausgebildet waren“, das also keineswegs als typisches Originalklang-Orchester gegründet wurde.
Offenheit ist eine der hervorragenden Eigenschaften Hengelbrocks, der in seinen Anfängen als Dirigent vor allem mit zeitgenössischen Komponisten arbeiten durfte, Kurse bei Luigi Nono besuchte, mit Mauricio Kagel Uraufführungsproduktionen einstudierte und mit einem Kapellmeister vom Schlag des großen Antal Dorati „die Werke von Bartók erarbeiten durfte“.

Originalklang auch für Wagner

Dies vorausgeschickt, liest sich die jüngere Biografie Hengelbrocks ein wenig anders: Mit dem „Tannhäuser“ debütierte er 2011 in Bayreuth, um nach dieser Erfahrung mit authentischem Wagner-Instrumentarium einen möglichst originalen „Parsifal“ einzustudieren, der dann auf Tournee ging.
Das wurde zu einem Schlüsselerlebnis. Instrumente wurden nachgebaut, manche sogar wirklich aus Bayreuth importiert: „Die Tuba und die Posaunen waren die, die schon die Musiker der Uraufführung gespielt haben!“ Das Ergebnis bei möglichst vibratofreiem Spiel wird auch von den Sängern, darunter Wagner-Kaliber wie Angela Denoke oder Mathias Goerne, wegen seiner Transparenz und klanglichen Dezenz geliebt.

In Wien erleben wir diesmal dennoch wieder den barocken Thomas Hengelbrock – mit einem Werk, das allerdings im Gegensatz zu den späten, großen Seria-Opern Händels die weltoffenere Stilistik des barocken Venedigs widerspiegelt: „Agrippina“ baut eher auf den bunten, ernste und heitere Szenen durchmischenden Meisterwerken der Frühzeit der Oper auf und reflektiert Händels staunende Begeisterung über die venezianische Musiktheaterszene. „Venedig“, erzählt Hengelbrock, „war um 1700 das Opernzentrum der Welt. Es muss für Händel ein unglaubliches Erlebnis gewesen sein, mit der fantastischen Musik von Monteverdi, Cavalli oder Cesti konfrontiert zu werden. Und er hatte keine Hemmungen, die gesamte Musikgeschichte, die ihm da eröffnet worden ist, zu plündern und sich anzuverwandeln!“

Von Nero zu Berlusconi

Für „Agrippina“ stand ihm denn auch „ein fantastisches Libretto“ zur Verfügung, „eine Polit-Intrige, die ihn enorm stimuliert zu haben scheint“. Anders als in den späten Opern musste Händel nicht Rücksicht auf finanzielle Gegebenheiten nehmen und den Primadonnen und Primi Uomini virtuose Arien auf den Leib schneidern, sondern konnte die psychologischen Konturen der politisch brisanten Handlung nachzeichnen, was es wiederum einem heutigen Regisseur leichter macht, sich den Stoff anzueignen: „Robert Carsen“, plaudert der Dirigent aus der Schule, „hatte jedenfalls keine Mühe, die Handlung in die jüngste italienische Vergangenheit zu verpflanzen“, in die Ära Berlusconi mit ihren Skandalen und Schlüpfrigkeiten. „Agrippina“ scheint für solche Aktualisierungen zeitgemäß genug, moderner jedenfalls als manch spätere Händel-Oper.

Für die Wiener Aufführung orientiert man sich am originalen Autograf von „Agrippina“, das sich bis auf Ouvertüre und erste Szene in der British Library in London erhalten hat. „Nur ein paar Kürzungen mussten wir vornehmen“, sagt Hengelbrock, „um auf eine für den heutigen Betrieb vertretbare Länge zu kommen.“

In Venedig anno 1705 verbrachte die große Gesellschaft oft den halben Tag im Opernhaus: „Natürlich war man nicht immer in der Loge“, erläutert Hengelbrock, „hie und da verließ man sie, um sich Geschäften oder amourösen Zwischenspielen zu widmen, oder auch, um etwas zu essen.“

Ob das nicht eine Idee wäre, einen solchen venezianischen Operntag zu rekonstruieren – im Sinn der Besinnung auf originale Aufführungspraktiken? „Oh, das wäre herrlich“, sagt Hengelbrock. Wer weiß, wohin sein künstlerischer Weg diesen Romantiker noch führen wird?

Zur Premiere

„Agrippina“, Händels Dramma per musica in drei Akten (1709) hat im Theater an der Wien am 18. März Premiere – in italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln. Thomas Hengelbrock dirigiert das Balthasar-Neuman-Ensemble. Inszeniert hat Robert Carsen, Patricia Bardon singt die Agrippina, Jake Arditti den Nerone, Danielle de Niese die Poppea. Weitere Termine: 20., 22., 29., 30. März.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.03.2016)

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