Staatsoper: Manon, aus der Musik geboren

(c) Staatsoper: Michael Poehn
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Anna Netrebko absolvierte auch ihr zwölftes Rollendebüt im Haus triumphal. Angesichts völlig untauglicher Regie-Vorgaben inszeniert sie aus dem Geist der Musik selbst.

Die Manon war einst eine der Glanzpartien der Anna Netrebko. Die Premiere der Massenet-Oper an der Seite von Roberto Alagna ist unvergessen, die Verführungsszene in St. Sulpice, von diesen beiden Künstlern zum Bühnenleben erweckt, gehört zu den aufregendsten Erlebnissen, die Musikfreunde in der jüngeren Wiener Operngeschichte machen konnten.

Nun präsentierte sich die Netrebko in ihrer zwölften Wiener Partie: als die „andere“ Manon, die von Giacomo Puccini. Der Wechsel spiegelt die Entwicklung ihres Soprans in Richtung gewichtigerer dramatischer Aufgaben.

Marcello Giordani ist bei „Manon Lescaut“ der Chevalier Des Grieux, ein tenoraler Kraftlackel mit unfehlbaren Höhen. Gleich im ersten Duett testet er anhand eines von Puccini als Möglichkeit zwar angedeuteten, aber keineswegs zwingend vorgeschriebenen hohen Hs, ob seine Tagesverfassung ihm „Bahn frei“ signalisiert. Sie tut's. Also lässt sich Giordani in der Folge auch angesichts der selbstverständlich bombensicheren vokalen Leidenschaftsattacken der Netrebko nicht lumpen.

Im zentralen Liebesduett steigert sich mit der erotischen auch die vokalartistische Begehrlichkeitskurve auf höchste, applaustreibende Werte. Dergleichen lässt etwas von jener bei Opernfreunden höchst beliebten Arena-Stimmung aufkommen, die bei einem echten italienischen Musiktheaterabend der Spitzenklasse wohl nicht fehlen darf. Freilich liegen die imponierenden künstlerischen Stärken der Netrebko anderswo, vor allem bei ihrem instinktiven Einfühlungsvermögen in die Charaktereigenschaften der jeweils darzustellenden Figur. Diese erweckt die Netrebko bekanntermaßen stets optisch filmreif zum Leben, ganz gleich, wer in welchem Ambiente auch immer Regie geführt haben mag.

Die echten Bilder malt die Musik

Selbst das von Antony McDonald entworfene Bühnenbild der aktuellen Wiener Inszenierung, in der Robert Carsen 2005 die Manon – welch vordergründig-zeitgeistiger „Tiefsinn“ – in einem fashionablen Kaufhaus verdursten ließ, kann angesichts einer dermaßen minuziös durchgeformten Studie die Stimmung im Haus nicht vollständig töten.

Die Unschädlichmachung widriger Umstände gelingt, weil die Netrebko – im Gegensatz zu den durchwegs offenkundig völlig unmusikalischen Regisseuren – ihre Gestaltung voll und ganz aus der Musik heraus entwickelt. Und das geht dem Publikum dann unter die Haut, weil es Lebenslust und Todeskampf der Manon nicht nur sehen, sondern auch hören kann: und zwar mit allen erdenklichen Zwischentönen.

Man muss nur aufmerksam lauschen, wie dieses Mädchen angesichts seines plötzlichen Reichtums im zweiten Akt über Sinn und Zweck von Schönheitspflästerchen philosophiert und innerhalb einer Phrase seine Tongebung – wie's das Libretto suggeriert – zwischen „wollüstig“ und „kokett“ moduliert. Entsprechend reichhaltig ist dann auch der Ausdruck, wenn im entscheidenden Opern-Moment die erotische Leidenschaft aus Manon herausbricht, ganz zu schweigen vom tragischen Endspiel, das wie schon bei Massenet auch bei Puccini zum großen Musiktheater-Augenblick wird.

Dass der tenorale Verehrer zumindest die eruptiven Kraftentladungen adäquat mittragen kann, ist schon lobenswert. Wolfgang Bankls Geronte dazu, der zunächst die Rolle des alten Genuss-Spechts mit Wonne auskostet. Er muss sich von dieser Circe bitter demütigen lassen und schlägt dann mit aller Gewalt zurück; auch das macht Bankl erschreckend realistisch glaubhaft, bis zuletzt, wenn er, wie in dieser Produktion vorgeschrieben – Achtung: Regisseurs-Psychologie! – auch die Rolle des Schiffs-Kommandanten übernimmt und den Gegenspieler Des Grieux zynisch nach Amerika empfiehlt.

David Pershall als schlüpfrig-listiger Lescaut und Carlos Osuna als williger Erfüllungsgehilfe Edmondo ergänzen die theatralisch durchwegs famose Darstellerriege. Juliette Mars und die vier „Madrigalistinnen“ singen das antikisierende Einlage-Lied im zweiten Akt wohllautend; dass ihr Auftritt zu den anmutigen Stil-Pointen nicht passt, die Puccini so subtil zu setzen verstand, kann man den Sängerinnen so wenig anlasten wie den Statisten und Statistinnen, die am Ende des Mittelakts eine Massenvergewaltigung andeuten müssen.

Puccinis frappante Modernität

So ist es im Repertoire-Theater, man muss mit Regie-Ausrutschern jahrzehntelang leben. Dafür hat man in Wien das wendige Staatsopernorchester, das unter Marco Armiliato Singschauspielern immerhin klanglich die passende Kulisse schafft; ganz ohne Anbiederung an den bei Puccini gern geäußerten Kitschverdacht.

Im Gegenteil, richtig verstanden, hört man ja hier dramaturgisch bedingte Schnitte und Akzente, wie man sie musikhistorisch erst viele Jahre später etwa bei Janáček erwarten würde. Und zwischendurch, Puccinis Natur gemäß, auch echte Ohrwürmer, versteht sich – noch vier Mal bis zum Ende der Saison; für alle, die keine Karten ergattern konnten auch auf der Großleinwand „live am Platz“ am 27. und 30. Juni.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.06.2016)

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