Musiktheater in der Schweiz: Die Opern-Horror-Picture-Show

In Genf wird der "Vampyr" zur Horrorshow.
In Genf wird der "Vampyr" zur Horrorshow.(c) Freese/drama-berlin.de (Freese/drama-berlin.de)
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Zürich zertrümmert Mozarts „Entführung“, Genf setzt Marschners „Vampyr“ neu zusammen – zu einem blutigen Gespensterspektakel.

Wenn das die zeitgenössischen Spielformen sind, denen sich – laut Postenausschreibung für den künftigen Direktor – die Wiener Staatsoper öffnen soll, dann gute Nacht, Opernstadt. Zürich hat sich nach deutschem Vorbild entschlossen, ein Werk wie die "Entführung aus dem Serail" zwar auf den Spielplan zu setzen, aber nicht mehr ernsthaft zur Diskussion zu stellen. Vielmehr nützt man Mozarts Musik unter Weglassung sämtlicher Dialoge als Untermalung für ein Psychospektakel, das mit der Handlung des Singspiels von 1781 überhaupt nichts zu tun hat.

Stattdessen illustriert David Hermanns Bewegungstheater eine moderne Beziehungskrise, die in einem Restaurant vor versammelten Publikum eskaliert, woraufhin sich die Dame (Konstanze) verbarrikadiert. Die „Entführung aus dem Serail'' wird zur „Befreiung aus der Damentoilette'', inklusive psychologischem Befund einer offenkundigen Bewusstseinsspaltung des Herrn: Belmonte und Pedrillo sind identisch, Blondchen ist das Ebenbild Konstanzes. Der Eifersuchtsgrund, Bassa Selim, existiert nur in Belmontes Einbildung.

Pavol Breslik singt Mozart bravourös

Auf solch platte Weise drückt man sich nicht nur vor der Aufgabe, die von Mozart komponierte Handlung zu erzählen, sondern auch vor der heutzutage riskanten Austragung des stückimmanenten Konflikts zwischen dem Abendland und dem Islam – aus dem im Original übrigens der muslimische Herrscher als moralischer Sieger hervorgeht.

Warum man die „Entführung“ ins Programm nimmt, wenn man das Stück nicht spielen möchte, bleibt schleierhaft, doch lässt sich immerhin erklären, dass Musikfreunde entsprechenden Vorwarnungen trotzen und hingehen. Es ist natürlich spannend zu hören, wie ein Tenor vom Format Pavol Bresliks nach Bewältigung immer gehaltvoller werdender Partien im italienischen Fach Mozart singt: nicht mehr in allen Lagen gleich ebenmäßig, doch in der anspruchsvollen „Baumeisterarie“ mit respektgebietender Bravour und Sicherheit.

Ebenso spannend: Ist die famose Olga Peretyatko imstande, den Primadonnenhimmel zu stürmen und die Konstanze zu singen? Sie klingt am brillantesten in der koloraturgeschwängerten „Marternarie“, nicht ganz souverän, ein wenig flackernd in den lyrischen Bögen der „Traurigkeit“ und ziemlich strapaziert in der Auftrittsszene. Die ist, zugegeben, die schwerste, denn da treffen die beiden Tugenden in unvermitteltem Wechsel aufeinander. Allerdings: Wer nennt in unseren Tagen die ideale Interpretin für diese ungemein fordernde Partie?

Das Buffo-Paar kann Zürich mit Claire de Sévigné und Michael Laurenz adäquat besetzen, dem Osmin, der hier den Oberkellner spielen muss, leiht Nahuel Di Pierro einen angenehm weichen, doch nicht sehr voluminösen Bass. Und, das ist wieder auf die bedenkliche Seite zu buchen, das Orchester liefert auf Originalinstrumenten oft schräge, nicht immer sauber intonierte Klänge. Dirigent Maxim Emelyanychev agiert außerdem gern im rhythmischen Dissens mit der Bühne.

Da hat man's in Genf bei den romantischen Klangwelten des Heinrich Marschner und dem wohltönenden Orchestre de la Suisse romande unter Ira Levin bedeutend besser. Mag es auch ein wenig an der idiomatischen Artikulation gebrechen, legt man doch den Singstimmen jenen suggestiven-expressiven Klangteppich, der hören lässt, warum „Der Vampyr“ das Missing Link zwischen dem „Freischütz“ und dem „Fliegenden Holländer“ darstellt.

Neu „komponierte'' Geräuschkulissen

Da aber weltweit nicht einmal mehr Webers Werk zum Fixbestand der Spielpläne gehört, kann auch nicht von einer Repertoireergänzung gesprochen werden, wenn Genf den „Vampyr“ ansetzt. Man spielt ihn ja auch nicht, sondern motzt den Ausbund romantischer Gruselsehnsucht zur Horrorshow auf. Knapp 75 Minuten dauert die, zugegeben, glänzend gemachte Persiflage von Antú Romero Nunes, teils klamaukig, teils recht ekelhaft kannibalisch zwischen abgetrennten Gliedmaßen und herausgerissenen Gedärmen; das Genfer Publikum johlt vor Begeisterung, dabei wird fast durchwegs nicht gut gesungen.

Aber das ist bei einer dermaßen zeitgenössischen Ausdrucksform gewiss so wenig relevant für den Erfolg wie die Tatsache, dass die Partitur radikal eingekürzt, umarrangiert und – übrigens genau wie die Zürcher „Entführung“ – durch neu „komponierte“ Geräuschkulissen angereichert wird; dergleichen kennen wir schon vom jüngsten Salzburger Festspiel-„Fidelio“. Allerdings könnte man einwenden, Beethovens Oper werde ja in Häusern wie der Wiener Staatsoper noch im Original gespielt – wenigstens bis uns die zeitgenössischen Spielformen eingeholt haben.

Beethoven und Mozart sind ja auch durch drastische Heimholungen in unsere Gegenwart nicht so leicht zu desavouieren. An die echte „Entführung“ können sich manche Musikfreunde noch erinnern. Doch ob Marschners „Vampyr“ in seiner Originalgestalt noch einmal erscheinen wird? Es könnte sich dabei herausstellen, dass es sich um ein Meisterwerk handelt . . .

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.11.2016)

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