Wenn von Liebe gesungen wird, ist oft nicht von Liebe die Rede

SALZBURGER FESTSPIELE 2010: FOTOPROBE 'ROMEO ET JULIETTE'
SALZBURGER FESTSPIELE 2010: FOTOPROBE 'ROMEO ET JULIETTE'APA/BARBARA GINDL
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Für die schönsten Emotionen der Welt hat die Oper seit ihren Anfängen eine eigene Gattung parat: das Liebesduett. Doch bei der vokalen Zweisamkeit geht es keineswegs immer so harmonisch zu, wie man meinen möchte.

„Es ist die Lerche, die so heiser singt/Und falsche Weisen, rauen Misston gurgelt“, so dichtet August Wilhelm von Schlegel frei nach Shakespeare die längst sprichwörtlich gewordenen Abschiedsworte des Romeo nach: Die Stunden, in denen die Nachtigall ihr süßes Lied sang, sind vorüber. Der Vorhang hebt sich in Shakespeares Szene „après“ – der Fantasie des Theaterbesuchers ist die Beschwörung der wunderbaren Zweisamkeit der Stunden davor vorbehalten.

So viel Dezenz ist in der Oper nicht möglich. Da will das Publikum seit jeher die Emotionen bis zur Neige ausloten. Das hieß in züchtigen Tagen freilich: die Abschiedsszene ausreichend auszudehnen, um Platz für hedonistische Klangschwelgerei zu schaffen. Diesbezüglich waren die Franzosen immer völlig ungeniert – vor allem, wenn es um die Anverwandlung deutscher oder englischer Klassiker ging.

So war denn Charles Gounod der ideale Mann für eine Veroperung nicht nur der zu diesem Zweck ausgewählten Szenen aus Goethes „Faust“, sondern auch der Meister von „Roméo et Juliette“. Sein Nachfolger Jules Massenet war auch ein Weltmeister im Komponieren von Liebesduetten und scheute am Vorabend einer Ära, die der Prüderie den Garaus machen sollte, nicht vor expliziter Beschwörung höchst erotischer Komponenten zurück. Dass die lasterhafte Manon ihren Chevalier Des Grieux aus dem Kloster heraus wieder in ihr Liebesnest zieht, gehört ja im ausgehenden 19. Jahrhundert noch zu den gewagten Bühnenexperimenten. Und vor allem: Wie die junge Dame da im Zeichen des Kreuzes die allzu menschlichen Instinkte jenes Mannes weckt, der sich gerade entschlossen hatte, sein Leben Gott zu weihen! Massenets Musik ist in ihrer melodischen Verführungskunst, sagen wir vielleicht: zumindest indezent.

Mit solch freizügigen Emanationen öffnet sich die Gattung Liebesduett für noch weit kühnere Experimente. Über die geradezu pornografische Deutlichkeit, die Richard Strauss in solchen Fällen walten lässt, im Vorspiel zu seinem „Rosenkavalier“ etwa, ist viel gelästert worden – ohne Worte malt die Musik ein Bild von dem, was bei Shakespeare als Tatbestand anzunehmen ist, bevor der Vorhang sich über dem berühmten „Es war die Nachtigall und nicht die Lerche“ hebt. Dergleichen konnten die Hofzensoren in Berlin und in Wien anno 1911 nicht beanstanden. Sie konnten ja nicht Noten lesen, geschweige denn ahnen, was hinter dem verworrenen Gespinst aus Notenlinien verborgen war.

Freilich: Die Uraufführung des „Rosenkavaliers“ ging in anderer Dekoration über die Bühne, als es Textdichter Hugo von Hofmannsthal vorgesehen hatte: Ein riesiges Bett mit aufgewühltem Bettzeug im Gemach der Marschallin sollte keinen Zweifel daran lassen, was die ebenso aufgewühlten Klänge unmittelbar davor bedeutet hatten. Noch bei den Salzburger Festspielen 1983 war dieser Akt der Zensur wirksam: Die Marschallin und ihr Octavian saßen beim Aufziehen des Vorhangs züchtig am Frühstückstisch.

Eine Generation nach Strauss hatte die Theaterzensur keine Chance mehr. Wer Werke vom Zuschnitt einer „Lady Macbeth von Mzensk“ (demnächst wieder an der Staatsoper und bei den Salzburger Festspielen) oder „Trionfo di Afrodite“ zuließ, kam – falls er es denn noch als solche empfand – um die Peinlichkeit nicht herum, den Liebesakt auch szenisch zumindest andeuten zu lassen. Carl Orff ließ sein Publikum die Begebnisse der Hochzeitsnacht unzweideutig miterleben: ekstatischen Melismen des hohen Soprans und des hohen Tenors von Braut und Bräutigam stehen am Ende der Trilogie, die mit den „Carmina burana“ anhebt. Und Schostakowitsch setzt noch eins drauf und versieht die mit drastischen Mitteln akustisch nachgezeichnete Vereinigung der Lady Macbeth mit ihrem Liebhaber sogar mit Karikatur-Elementen – keine Aufführung, in der die Lacher ausbleiben!

Es war nicht nur politische Brisanz dieses Werks, die den Diktator Stalin zu wütenden Attacken auf den Komponisten veranlasste und eine drastische ästhetische „Säuberungswelle“ in der Sowjetunion der Dreißigerjahre heraufbeschwor. „Lady Macbeth“ war lange Zeit verboten.

Zensurprobleme hatte ein Mann wie Giuseppe Verdi kaum, jedenfalls nicht wegen solcher Szenen. Sie bilden zentrale Momente in den meisten seiner Opern – und sind doch selten von der Art der ungestörten Zuneigungsbezeugung, wie man sie mit dem Wort „Liebesduett“ gemeinhin verknüpft. Apropos Zensur: Der Spielort und der Rang der Personen, die Verdis „Maskenball“ bevölkern, musste einst geändert werden. Tenoraler Held und Mordopfer war anlässlich der Uraufführung – und im weltweiten Theatergebrauch noch ein Jahrhundert lang – ein Gouverneur von Boston; nicht, wie vorgesehen, der Schwedenkönig Gustav. Königsmord auf der Bühne war verboten.

Nicht aber der Ehebruch, den er mit der Frau seines engsten Vertrauten begeht – oder begehen möchte. Eines der herrlichsten Duette der Musikgeschichte zeigt das psychologische Dilemma des Pärchens: Er jubelt über ihr Liebesgeständnis, sie klagt über die Unmöglichkeit, ihrem Ehegatten die Treue zu brechen. Harmonie herrscht da nur in den Terzenparallelen.

Behutsame, zerbrechlich-melancholische Duette hat Verdi auch für Königin Elisabeth und Don Carlos komponiert, die zweimal zueinander finden und zweimal nur Schmerz empfinden über das Zerbrechen ihres Traums. In das „per sempre“ – einen Abschied und ein Liebesbekenntnis „für immer“ – bricht im Finale der Oper die Realität herein; mit einer Brutalität, wie sie in der Opernwelt sonst nur noch Wagners Tristan und Isolde auseinanderreißt.

Der „Cantus interruptus“ endet im Entsetzensschrei, denn die Liebenden werden auf dem Höhepunkt ihrer musikalischen Entfaltung in flagranti ertappt. Wagner, der Maßlose, hat sie zuvor fast 40 Minuten lang über das Mysterium der Vereinigung, über die Symbolik von Nacht und Tag, Tod und Traum philosophieren lassen: symphonisch klar gegliedert in ein ausführliches Vorspiel von etwa einer Viertelstunde und eine mehr als zwanzigminütige musikalische Vereinigung der Stimmen. Die Musik hebt sich in drei – durch die entrückten „Wacherufe“ der Brangäne gegliederten – immer höher sich wölbenden Klangwellen.

Die „Auflösung“ folgt am Ende des Dramas: „Isoldes Liebestod“ nimmt die Musik des gestörten Duetts wieder auf und führt sie zur Vollendung. Doch da ist aus dem Duett ein Solo geworden. Ein wahrhaft erfülltes Liebesduett darf also nicht sein; jedenfalls nicht mit erotischen Konnotationen.

Die Vollkommenheit erreicht die Liebe ja erst jenseits solch profaner Assoziationen. Mozart, der mit Don Giovannis und Zerlinas „Reich mir die Hand“ und mit den beiden Duetten im zweiten Akt von „Così fan tutte“ die Prototypen angewandter Verführungskünste zu komponieren wusste, schrieb auch das reinste, höchste Duett „über die Liebe“ und legt es nicht einem Liebespaar in den Mund, sondern der Prinzessin Pamina und dem Vogelfänger Papageno in der „Zauberflöte“: „Mann und Weib und Weib und Mann reichen an die Gottheit an.“


Hohe Liebe und deren Gegenteil. Die Nutzanwendung davon finden wir im „Fidelio“. Das wohl eruptivste, mitreißendste aller je komponierten Liebesduette findet sich im Kerkerbild von Beethovens Opern-Solitär: „O namenlose Freude“ – die Erfüllung der treuen Gattenliebe, die höchste Stufe, die menschliche Hingabe erreichen kann.

Der ganz und gar unmoralische Gegenentwurf dazu stand schon am Beginn der Gattung Oper: Anno 1642 ließ deren erster Großmeister, Claudio Monteverdi, seine „Krönung der Poppea“ in einem verzehrend schönen Liebesduett zwischen Nero und der soeben zur Kaiserin gekürten Kurtisane enden: Nichts von Blut und Rache, Ehebruch und Lasterhaftigkeit, die den Weg zu diesem Finale geebnet hatten. Wenn es je einen Beweis dafür gegeben hat, dass die Schönheit über Leichen gehen darf, dann hier. Die Moral von der Geschicht' ist die Aushebelung der Moral. Die herrliche Musik scheint das frevelhafte Paar mit den Mitteln der Ästhetik geradezu zu entsühnen; zumindest für den Moment waltet Gott Amor als Alleinherrscher über ihren Häuptern. Die Welt rundum und ihre Werte gibt es nicht mehr.

„Ertrinken, Versinken“, heißt es in dem einen Stück, „sind halt aso, die jungen Leut'“ in dem anderen . . .

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.12.2016)

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