Salzburger Erlebnispfad der Philharmoniker

Bernard Haitink
Bernard Haitink (c) imago/Leemage (imago stock&people)
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Mit Mahlers Neunter unter Bernard Haitink begann die Reihe der großen Festspiel-Orchesterkonzerte.

Die Wiener Philharmoniker feierten ihren Festspieleinstand heuer mit einer symphonischen Grenzerfahrung. Gustav Mahlers Neunte, Musik des Abschieds, des Aufbegehrens gegen das Schicksal und der Ergebung – „Tod und Verklärung“ in vier langen Sätzen; eine Herausforderung der besonderen Art auch für das Publikum. Wer etwa nichtsahnend käme, um einen schönen Festspielabend zu genießen, wird vor den Kopf gestoßen, wenn er früher einmal viel gespielte Mahler-Symphonien genossen hat, die Erste etwa oder die Fünfte . . .

Die Neunte sperrt sich gegen jede oberflächliche Betrachtung, ihre „Trauermärsche“ brechen unvermittelt und mit verstörender Vehemenz herein, vernichten jeglichen kurz aufblühenden „Adagietto“-Zauber mit rohester Gewalt.


Abschiedsgesänge. Hier singt eine wunde Seele ihr ganzes Leid, so ungeordnet, ja scheinbar wirr, wie das Schicksal zuschlägt. Das ist Musik des Übergangs, von den letzten Bastionen einer an klassische Ordnungen zumindest noch erinnernden Romantik zu einer haltlos subjektiven Moderne. Deren Ausdrucksstreben nimmt auf überkommene Formtraditionen keine Rücksicht mehr.

Das fordert riskante Interpreten-Arbeit. Mit der Neunten erringt man keine schnellen Erfolge, wie sie bei nahezu allen früheren Werken Mahlers einzufahren sind. Die Aufführungsgeschichte dieses radikalen symphonischen Versuchs nimmt sich eher aus wie das Protokoll von Näherungswerten – nur den größten Dirigenten scheinen wirklich stimmige Darstellungen zu gelingen, in denen etwa das völlige Verebben in (Todes-)Stille am Ende nicht zum Scheitern verurteilt ist, weil es ihm an Konsistenz gebricht.

Diese Partitur ist voll von Aufforderungen, Unmögliches möglich zu machen: zuletzt muss gar Stille hörbar werden. Die Musik hat zuvor mehrfach die Anschauungsebenen gewechselt, einen großen Des-Dur-Gesang unterbrechend, als hätte der Komponist seine Hörer längst in Gefilde entführt, in denen man von Dimension zu Dimension zu wechseln vermag: Während die Streicher ihre Legatobögen vielleicht „drüben“ endlos weiterziehen, blenden wir uns zwischendurch auf jene „Höh'n“, auf denen „der Tag schön“ ist – wie immer zitiert Mahler aus seinen Liedern; und kaum findet man in seinem Œuvre-Katalog Bewegenderes als die einsamen, verlorenen Kreise, die Holzbläsersoli und Harfe ziehen, scheinbar längst unabhängig voneinander, unabhängig von den Schwerkraftgesetzen der Harmonielehre. Die brechen unter den gewaltigen Schlägen der Mahler'schen Schicksalbotschaft bereits im ersten Satz zusammen – um dem Abbild des gespenstischen Treibens einer seelenlos gewordenen Welt zu weichen: Tanzboden-Derbheit im zweiten, sinnlos auf die Spitze getriebene kontrapunktische „Geistesarbeit“ im dritten Satz.

Bernard Haitink und die Wiener Philharmoniker haben diese Neunte zum Auftakt der Salzburger Festspiele musiziert – und sich nicht auf waghalsige Experimente, auf improvisatorisch-fantastische Subjektivitäten in der Auslotung ihrer Inhalte eingelassen. Haitink ist gar nicht der Mann, der sich auf emphatische Erzählweisen einlässt. Er kommt aus der Amsterdamer Mahler-Tradition, die sich auf eine direktere Interpretationslinie verlassen kann als der durch „Tausend Jahre“ und eine lange freiwillige Phase der Berührungsangst gestörte Zugang der Wiener Philharmoniker.

Das Uraufführungsorchester von 1912 bewegt sich im Stimmengewirr der Neunten Mahlers nicht so schlafwandlerisch sicher wie in ähnlich komplex geschichteten Werken vom Schlage einer „Salome“ oder auch in anderen Mahler'schen Symphonien, die seit Kubelik und Bernstein zum Kernrepertoire gehören. Hier lauern Sackgassen und Fallstricke, hier kann man sich Pointen nicht zuspielen, ohne einkalkulieren zu müssen, dass sie im Dickicht des Stimmengewirrs ihren Adressaten nicht erreichen.

Man darf sich aber auf den gediegenen Organisator Haitink verlassen. Er führt auch durch unwegsames Gelände mit sicherer Hand – und bekommt zum Lohn äußerst konzentriert-engagiertes Spiel; und spätestens mit dem ätherisch-schönen Trompetensolo inmitten des Rondo-Satzes ein Überraschungsgeschenk, das die philharmonischen Geigen sogleich in einen jener unvergleichlichen Momente ummünzen, die man von diesem Orchester immer erwartet − und zu Festspielzeiten jedenfalls auch geliefert bekommt . . .

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.07.2017)

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