Ionna Avraam: „Vergessen kann ich nicht, verzeihen ja“

(c) Carolina Frank
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Solotänzerin Ionna Avraam über die romantische Giselle in der Oper – und Mutterschaft.

Nach der roten Giselle aus dem 20. Jahrhundert tanzt Ionna Avraam auch die romantische aus dem 19. Mit dem Kostüm zieht sich die Darstellerin eine zweite Haut über. Die Alltagsperson macht der Rolle Platz. So fühlt auch die Solotänzerin Ioanna Avraam zwei Seelen in ihrer Brust. Die eine, die Alltagsseele, gleicht mehr einem Reh, als einer kämpferischen Heroine, ist distanziert, ein wenig ängstlich. Ihre Ellbogen gebraucht Avraam, wenn es die Choreografie verlangt, doch nicht gegenüber Kolleginnen. Die andere, die Bühnenseele, ist heißblütig, elegant, voller Hingabe. Wie Giselle, die zum Geistwesen Wili wird. In der Serie der kommenden Aufführungen des gleichnamigen romantischen Balletts wird Avraam die Titelheldin tanzen: Davon hat sie geträumt und sich bestens vorbereitet. Schon einmal hat sie als Giselle begeistert. Nicht als die Kunstfigur, die stolze Winzerkönigin Gisela aus dem Rheinland, die sich in Albrecht verliebt, ohne zu wissen, dass der ein Herzog und längst einer anderen versprochen ist, sondern eine, die als lebendige Tänzerin die Rolle mit dem Leben verwechselt hat: Olga Spessivtseva. Ihr ist Boris Eifmans Ballett „Giselle Rouge“ gewidmet, in dem Avraam in der Volksoper brilliert hat. Aufwühlend war ihre Darstellung der Spessivtseva, die nicht allein an den Männern, sondern auch an ihrer Rolle zerbrochen ist. In den 1920er-Jahren hat die Ballerina von Moskau aus als Giselle die Welt erobert. So sehr hat sie sich in ihre Rolle der Kunstfigur hineingelebt, dass sie im Irrenhaus gelandet ist. Das kann Avraam nicht passieren.

Getrennte Welten. Sie weiß, dass es außer Bühne und Ballettsaal auch eine andere Welt gibt, und hält die beiden Bereiche bewusst getrennt. Der Babyboom im Wiener Staatsballett lässt sie über das Tanzen hinausdenken: „Ich will auch einmal Mutter werden“, sagt sie verträumt lächelnd. Den Partner dafür gibt es. Er ist kein Tänzer. „Tanz und Gelag ist des Teufels Feiertag“, sagt der Volksmund und so sind die Wilis, die im nächtlichen Wald aus dem Grab steigen, auf Männerjagd gehen, um diese in den Tod zu tanzen, auch junge Frauen, die im Leben zu viel getanzt haben und unerlöst weitertanzen müssen. So ätherisch wie unheimlich, ausdruckslos und ohne Emotion, kennen sie keine Gnade.

Der weiße Akt verlangt von allen Tänzerinnen eine Drehung um 180 Grad, vom fröhlichen Bauernmädchen im Dirndllook zur seelenlosen Wili im weißen Tutu. „Der Tod schreckt mich, ich mag gar nicht daran denken, da bekomme ich gleich Herzklopfen.“ – „Vielleicht ist das so, weil ich ihm noch nie begegnet bin.“ Avraam erlaubt sich ein gequältes Lachen: „Meine Eltern, auch meine Großeltern leben noch. Jeden Sommer verbringe ich mit meinen beiden Schwestern zu Hause.“ Im Urlaub wird nicht getanzt und nicht vom Tanzen gesprochen, obwohl auch Schwester Louiza Tänzerin ist. „Weniger Ballett, mehr modern, in Saarbrücken.“ Wenn Ioanna, die Älteste, wieder auf der Bühne steht, ist das Dolce Vita am Strand von Larnaka vergessen. Ioanna wird zur Wili, die im Mondschein tanzen muss. Um die zwei Charaktere, die sie darzustellen hat, das naive Bauernmädchen inmitten ihrer Freundinnen und die unheimliche Wili, die unversehens aus dem Grab steigt, wenn Albrecht dort kniet, hat sie sich alle vorhandenen Videos angesehen und auch viel gelesen. So hat sie es auch mit der Spessivtseva in „Giselle Rouge“ gemacht. Und sie ist stolz, „weil ich denke, Manuel (Anm. Legris, der Ballett-Direktor) hat meine Darstellung auch geschätzt und lässt mich deshalb jetzt auch im bekannten Ballett tanzen.“

„Schneekönigin“. Avraam sieht sich vor allem als klassische Tänzerin. Dennoch wird sie gerne in Balletten des 20. Jahrhunderts, von Jiří Kylián bis William Forsythe, von Jerome Robbins bis David Dawson, eingesetzt. „Am liebsten tanze ich dramatische Rollen.“ Wie die „Schneekönigin“ im Ballett von Michael Corder. Avraam konnte der eiskalten Schönheit im Kristallpalast nahezu feuriges Profil verleihen, das Publikum applaudierte begeistert.

Avraam mag lautstarke Zustimmung, die Liebe des Direktors ist nicht so wichtig: „Ich will seinen Respekt, dass er meine Arbeit und Leistung anerkennt.“ Schmeicheleien oder Drängeleien fern, sie weiß, „wenn ich wirklich reif dafür bin, wird das Avancement kommen. Ich muss 100 Prozent geben können, wenn ich nicht sicher bin, verzichte ich lieber.“ An einer Blitzkarriere liegt der 28-Jährigen nichts. „Aber einen gewissen Ehrgeiz habe ich schon, 2014 bin ich Solotänzerin geworden. Das war richtig.“ Eher verwundert war sie, als Paul Lightfoot und Sol Léon sie 2011 für die einzige weibliche Rolle in einem Trio von Supermännchen für das einaktige Ballett „Skew Whiff“ ausgewählt hatten. Lightfoot/Léon hatten gut getan: Avraam, eben erst zur Halbsolistin avanciert, war ein dominantes Weibchen, zeigte Verführungskünste und Humor. Humor haben die Wilis nicht, aber Giselle ist auch nach ihrem Tod nicht erkaltet. Sie verzeiht dem Betrüger und rettet Albrecht das Leben. Würde die Tänzerin das auch tun, „verzeihen“? Jetzt muss sie nachdenken, in der Erinnerung kramen: „Verzeihen ja, aber vergessen kann ich nicht. Eine zweite Chance gebe ich nicht. Auch mir selbst nicht.“ Sie wird sie nicht brauchen, diese zweite Chance, weil Avraam, seit ihrer Ausbildung in Limassol und mit Stipendium bei der Heinz-Bosel-Stiftung / Ballett Akademie in München, immer gleich die erste ergriffen hat.

Tipp

Staatsoper. „Giselle oder die Wilis“ (Elena Tschernischova/J. Coralli/J.Perrot/Marius Petipa), Ab 22.9. Wiener Staatsballett.

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