Wiener Festwochen: Kein Entrinnen aus der Beziehungskiste

(c) Festwochen/ Rudy Amisano
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Luca Francesconis Oper „Quartett“ nach Heiner Müller, inszeniert von Àlex Ollé. Ein eindringlich-düsterer, musikalisch fesselnder Krieg der Geschlechter.

Der Anfang ähnelt jenem von „Psycho“: Wenn die Kamera eine Wolkendecke durchstoßen hat (Video: Franc Aleu), streift sie durch eine Stadt, bis die Suche an einer Fassade ihr Ende findet und wir voyeuristisch durch das Fenster lugen. Bei Hitchcock ist es ein billiges Hotel in Phoenix, zur Mittagsstunde – die einzige Zeit, zu der Marion und Sam sich zu außerehelichem Beischlaf treffen können; hier blicken wir dagegen in einen noblen Mailänder Palazzo. Um Sex geht es in beiden Fällen. Nur ist die weibliche Hauptperson, die Marquise de Merteuil, anfangs allein und betreibt gerade die sogenannte Liebe an und für sich: Sie masturbiert – und mit ihrem Stöhnen beginnt das eigentliche Stück voller vielfältig verstrickter erotischer Machtkämpfe bis hin zum Tod.

1982 hatte der deutsche Dramatiker Heiner Müller (1929–1995) einen alten Plan verwirklicht und aus dem damals 200 Jahre alten Briefroman „Les liaisions dangereuses“ von Choderlos de Laclos ein Zweipersonenstück namens „Quartett“ destilliert: Im Original stiftet die Marquise ihren Ex Valmont aus persönlicher Rache an, die junge Braut Cécile zu verführen; außerdem gelingt es ihm, die tugendsame Madame de Tourvel ins Bett zu bekommen. Doch schließlich verrät ihn die Marquise, und er stirbt im Duell. Müller spitzt das Geschehen zum puren Vernichtungskrieg der Geschlechter zu, den er pathetisch zugleich in einem „Salon vor der Französischen Revolution“ sowie in einem „Bunker nach dem Dritten Weltkrieg“ ansiedelt: Seiner Ansicht nach gibt es kein Entrinnen.

Vertauschte Rollen und Kleider

Warum aber Mailand als angedeuteter Schauplatz der Opernversion des Stoffes? Nun, dort kam 1956 der Komponist Luca Francesconi zur Welt, und in seiner Geburtsstadt fand vor einem Jahr auch die Uraufführung statt: im Teatro alla Scala, wo Stéphane Lissner als Intendant wirkt, im Nebenberuf Musikchef der Wiener Festwochen. In deren Rahmen schließlich bildet diese Koproduktion nun das zeitgenössische Pendant zur einzigen anderen auf dem Programm stehenden Oper, Verdis „Traviata“ – die mehrheitlich weder musikalisch noch szenisch als großer Wurf erachtet wurde.

So gesehen entpuppt sich Francesconis „Quartett“ als seinem Gegenstück klar überlegen, da hier alle optischen und akustischen Komponenten klug aufeinander bezogen sind und zusammenwirken: Das Publikum schaut wahrlich in eine Art Beziehungskiste, ein in der Bühnenmitte schwebendes Zimmer. Zahllose Fäden führen von hier nach außen, keine Strahlen, eher so etwas wie Wimpern, durch welche der Raum umgekehrt als Auge wahrnehmbar wird. Anstarren und angestarrt werden: der Beginn der Begierde.

Die komplette Rückwand wird weiter für Projektionen genützt, die das Geschehen illustrieren. Da ergibt sich gegen Ende der gruselige Effekt einer Multiplikation: Geht es denn immer und überall zwischen Mann und Frau so zu? Perpetuiert sich das Konglomerat aus Lust und Verführung, aus erotischem Machtspiel bis hin zur puren Vergewaltigung ohne Ende, wie es Àlex Ollé von La Fura dels Baus in seiner Inszenierung vorführt? Das Paar wälzt sich einmal kopulierend auf dem Boden, um ein andermal adrett und starr nebeneinander auf dem Sofa zu sitzen wie einst Loriot und Evelyn Hamann, spielt zudem die Verführungsszenen mit zwischen den Geschlechtern vertauschten Rollen und Kleidern durch (Kostüme: Lluc Castells) – wobei die dabei eingesetzte klischeehafte Körpersprache den Reiz am Objekt der Begierde verdeutlicht und dieses zugleich erniedrigt. Wer zuerst Liebe empfindet, hat verloren. „Ich glaube, ich könnte mich daran gewöhnen, eine Frau zu sein, Marquise“, sagt Valmont. „Ich wollte, ich könnte es“, lautet ihre Antwort.

Dabei hat Francesconi nicht Müllers Original, sondern eine nicht immer optimale englische Übersetzung vertont. Sei's drum, seine Musik jedenfalls, vom Ensemble da camera dell'Accademia Teatro alla Scala unter Peter Rundel sowie von den Klangtechnikern des Pariser Ircam mit großer Überzeugungskraft dargeboten, liefert zum tristen Treiben sowohl die Spannung erzeugende Tonspur als auch eine enthüllende, interpretierende Instanz: Vom Schnippschnapp großer Scheren (Kastrationsängste?) bis zu virtuellen Orchester- und Chormassen im Surroundsound, in kargen Zärtlichkeitsgesten etwa von Flöte und Harfe oder ironisch herbeizitierten Arien- wie Tanzmanieren zeigte sich eine souverän fantasievolle Beherrschung des Metiers. In den rückhaltlos ihre Rollen lebenden, auch sängerisch untadeligen Protagonisten Allison Cook (Sopran) und Robin Adams (Bariton) besaß der Abend freilich sein größtes Kapital – auch wenn der Schluss mit dem finalen Furor der Marquise nach der Vergiftung Valmonts inszenatorisch zu zahm und kontrolliert wirkte.

„Ich hoffe, dass das Spiel sie nicht gelangweilt hat. Das wäre in der Tat unverzeihlich“, heißt es zuletzt. Dem begeisterten Applaus nach zu urteilen, fand das Publikum die 80 Minuten aufregend genug.
Museumsquartier, 31.5., 1.6., 19.30 Uhr.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2012)

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