Thielemanns Salzburger Bruckner-Hochamt

Thielemanns Salzburger BrucknerHochamt
Thielemanns Salzburger BrucknerHochamt(c) EPA (BARBARA GINDL)
  • Drucken

Für ein Konzert mit den Wiener Philharmonikern kam der Maestro aus Bayreuth angereist.

Bei den Festspielen stehen sämtliche Mahler-Symphonien auf dem Programm. Dagegen steht eine Aufführung der Fünften Bruckner sozusagen quer. Warum? Je länger man nach einer beeindruckenden Wiedergabe dieses Werks darüber nachdenkt, wann man das letzte Mal eine so überzeugende Realisierung der außergewöhnlichen Partitur zu hören bekommen hat, umso weiter schweift die Erinnerung zurück.

Seit der Landnahme Mahlers scheint die tiefgreifende Beschäftigung mit Bruckner abzunehmen. Von der Fünften erinnere ich mich, in den vergangenen zwanzig Jahren eine strukturell exzeptionelle Wiedergabe unter Lorin Maazel gehört zu haben. Franz Welser-Möst gelang eine wider den Stachel der jüngeren Bruckner-Exegese löckende Interpretation, die eher an den dramatischen Feueratem der Furtwängler'schen Wiedergabe aus den Vierzigerjahren erinnerte als an die solennen Bruckneriana der folgenden Generation.

Christian Thielemann schließt nun eher an die ruhige Gangart eines Sergiu Celibidache an, ohne aber dessen Pathos auch nur anzustreben. Thielemann hat seine eigene Sichtweise zu bieten. Die Fünfte mit ihrem mächtigen Schlusschoral ohne Pathos? Das funktioniert erstaunlicherweise ebenso gut wie die allerbesten klassischen Versuche, eine immer höhere Dichte an Klangintensität zu erzeugen, die dann notwendigerweise ins abschließende „Erzgebirge“ mündet.

Karajan, dem, um die Erinnerungen abzurunden, die zwingendste aller Aufführungen der Fünften gelang, bestellte zu diesem Zweck Anfang der Achtzigerjahre elf zusätzliche Blechbläser, die den Choral von der Musikvereinsempore bliesen – unvergesslich für jeden Musikfreund, der dabei sein durfte.

Ohne Theatereffekte. Thielemanns Aufführung hält sich von theatralischen Effekten fern, verzichtet auch auf die in der romantischen Tradition – bis zu Furtwängler – üblichen Tempomodifikationen, die etwa die Durchführung im Stirnsatz bis zur Siedehitze anheizen können. Spannung entsteht bei ihm durch minuziöse dynamische Differenzierung (nahtlos von kaum hörbaren, doch klangvollen Pizzicati der Satzanfänge bis zu den strahlenden Fortissimi) und durch klangliche Registrierarbeit, die dem Organisten Bruckner alle Ehre macht.

Die Philharmoniker lassen unter seiner Führung fein austarierte Akkordfolgen hören – etwa in Frage-Antwort-Effekten von Streichern und Bläsern, die tatsächlich an Orgelchoräle und deren Echos im „Fernwerk“ erinnern – die Perfektion würde für drei Hochämter reichen. Ans katholische Psalmodieren erinnert auch das Abphrasieren jedes „Verses” im Gesangsthema des ersten Satzes. Schneller wird Thielemann im Verlauf einer Entwicklung selten, eher gönnt er deutlichen Statements noch eine abschließende Corona.

Spätestens im zweiten Satz war zu begreifen, worin die Meriten einer solchen Interpretation liegen. Es ist, um den Eingangsvergleich noch einmal aufzugreifen, vielleicht gar kein Zufall, dass mit der verstärkten Besinnung auf Mahlers Symphonik mit ihren berstenden Formen und der Anforderung an bühnenreife Konzertinszenierungen das Verständnis für Bruckners integrative Geistigkeit schwindet. Thielemann ist kein Mahler-Dirigent, wie auch alle früheren bedeutenden Bruckner-Exegeten sich Mahler nur in Ausnahmefällen, wenn überhaupt, genähert haben.

Schönheit, ein Naturereignis. Eine Musik, die sich ganz ohne Programm, ohne äußere „Handlung” offenbaren kann, wenn man sie denn in ihrer Schönheit beschaut wie ein Naturereignis, hat etwas faszinierend Unzeitgemäßes. Um die Mittagsstunde des 10.August schien im Salzburger Festspielhaus die Zeit stillzustehen, denn die Philharmoniker deckten die Strukturen eines architektonisch wohlgebauten polyphonen Geflechts auf, ohne sich um die heute omnipräsente Zeitachse zu bekümmern. Musik muss nicht immer irgendwie weitergehen, sich zwanghaft irgendwohin entwickeln. Musik kann auch einfach sein. Die pure Schönheit der Klänge – wie immer man sie deuten mag, vielleicht sogar aus der tiefen Glaubensgewissheit, die dem Komponisten ein Leben lang – auch in Zeiten der Anfechtung, in der die Fünfte entstand – Halt verlieh.

So löst sich ein Rätsel: Kenner fragen oft, warum das Adagio der Fünften anders als die langsamen Sätze der drei letzten Symphonien keinem deutlich markierten „Höhepunkt“ zustrebt. Die Antwort: Warum sollte es? Die Frage ist falsch gestellt! Der tosende Applaus signalisierte wohl auch Dankbarkeit, dass solche Erkenntnisse – ausgesprochen oder nur gefühlt – möglich sind.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.08.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.