Gewandhausorchester: Mahlers Heimholung

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Das Gewandhausorchester spielte die Neunte neu ein.

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Das Gewandhausorchester blickt auf eine lange Spieltradition bezüglich Gustav Mahlers Symphonien zurück, die ein wenig abseits der in unseren Breiten bekannten, sehr durch Leonard Bernsteins Engagement geprägten „westlichen“ Deutungslinie angesiedelt ist. Bei den Leipzigern, die ja über die Jahre hin, die sie von westeuropäischen oder gar amerikanischen Entwicklungen abgeschnitten waren, auch mit Mahler-Kennern wie dem Prager Chefdirigenten Václav Neumann eng zusammengearbeitet haben, kann man hören, dass es so etwas wie eine, sagen wir ruhig „böhmische“ Mahler-Spieltradition gibt – der Meister wurde ja in Mähren geboren; dass seine Muttersprache Deutsch war, können erst nach 1945 Geborene als Widerspruch empfinden.

Abgesehen davon hat unsere viel geliebte wienerische Orchesterkultur, insbesondere was die Streicher betrifft, ihre Wurzeln auch in nachbarlichen Gefilden. Dass auch in Wien Meisterinterpreten wie Rafael Kubelík – lang vor Bernstein – das Mahler’sche Erbe gepflegt haben, vergisst man oft. Somit hat eine – kurioserweise durch einen italienischen Maestro vermittelte – Interpretation wie diese durchaus einen Wiederbelebungseffekt. Da wird Mahler (der Ahnherr einer analytischen Dirigentenschule so unterschiedlicher Maestri wie Bruno Walter oder Otto Klemperer!) ohne jeglichen Anflug von Sentimentalität musiziert, ohne falsche Verzögerungen oder effektvoll nachdrückliche Expressionismen, sondern mit Sinn für Mahlers oft quer übers Orchester weitergereichte, strömende Melodik (zur Auffächerung und Durchhörbarkeit trägt auch die althergebrachte deutsche Orchesteraufstellung bei, die wir beinah nur noch aus der Staatsoper kennen und die nachvollziehen lässt, wie oft in einem Werk wie diesem beispielsweise die Sekundgeigen „führen“).

Atemberaubend. Opernkenner Chailly hat viel Sinn für die dramatischen Erzählstrukturen dieser Musik: Der Zusammenbruch im ersten Satz wirkt markerschütternd, der Höhepunkt im Final-Adagio atemberaubend, obwohl sich beide Momente scheinbar ganz natürlich, jedenfalls ohne künstlich vorbereitende interpretatorische „Inszenierung“ entwickeln. Im burlesken „Rondo“ wird so wenig outriert wie im tänzerischen „Ländler“-Satz. Musikantischer Mahler feinsten Zuschnitts, kein künstlich aufgeputschtes Konzertsaal-Drama. Man hat die Aufführung entsprechend unaufgeregt, doch mit Sinn für strukturelles Hören, also nicht immer entlang der vorgeblichen Melodiestimme, abgefilmt. So lässt sich Einsicht nehmen in die hochkomplexen Vorgänge dieser Partitur; oder nur lauschen: Verächter gefilmter Klassik haben ja die Wahl.

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