"Immer noch Sturm": Handkes poetische Familiensaga

Immer noch Sturm Handkes
Immer noch Sturm Handkes(c) APA/BARBARA GINDL (BARBARA GINDL)
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Regisseur Dimiter Gotscheff hat "Immer noch Sturm" bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt. Pathos und Ironie fügen sich zu einem beeindruckend dichterischen Spiel, nur der Schluss gerät aus den Fugen.

Gelegentlich unternimmt der Schriftsteller Peter Handke in seinen Werken eine sentimentale Reise in seine alte Heimat Koroška/Kärnten. Dann wird Familiengeschichte aufgearbeitet, so wie zum Beispiel in dem dramatischen Gedicht „Über die Dörfer“, das 1982 in Salzburg uraufgeführt wurde, oder in dem Roman „Die Wiederholung“ von 1986, einem für die zeitgenössische europäische Literatur bedeutenden Text.

Eindrücklich ist ihm die langsame Heimkehr auch mit dem 2010 veröffentlichten Drama „Immer noch Sturm“ gelungen, das am Freitag bei den Salzburger Festspielen auf der Pernerinsel in Hallein uraufgeführt wurde.

Der bulgarische Regisseur Dimiter Gotscheff hat diesen 166 Seiten langen Text bis zur Neige ausgekostet. Es wird reichlich erzählt und nur sparsam gespielt. Fast fünf Stunden inklusive einer kurzen Pause dauert die Vorstellung, eine Koproduktion mit dem Thalia Theater Hamburg. Mit List, Sanftheit und auch mit Brutalität weist er acht Schauspieler und zwei Musiker an, in edelster deutscher Sprache das Epos vom tapferen slowenischen Volk in Koroška/Kärnten vor und im Zweiten Weltkrieg zu singen. Keine Show, sondern ein Hochamt. Der Text ist über weite Strecken höchst impressiv, endet aber, und das mindert das Schauspiel dieses schönen Abends letztendlich doch, in einem langen Monolog, der pathetisch kommentiert, was zuvor ohnehin deutlich herausgearbeitet wurde: Österreich ist das Fette, an dem Handke würgt, das schöne Jauntal hingegen ist die verloren gegangene Bleibe, die ihm das Herz zerreißt.


King Lear auf der Heide. Drei Generationen suchen eine Geschichte, auf einer Heide, einer Steppe, einer Heidesteppe („Immer noch Sturm“ lautet eine Regieanweisung in Shakespeares „King Lear“). Hier also, im Osten von Kärnten, lässt ein „Ich“ (Jens Harzer) seine Vorfahren aus dem Nebel wie aus dem Nichts auftauchen. Dieser Dichter geht bereits am Stock, er trägt ein Stockerl mit sich, auf ihm hockend schaut er ins Land hinein, durch seine braun getönte Hornbrille, die an den jungen Handke vor mehr als 40 Jahren erinnert.

Katrin Brack hat die Bühne minimal ausgestattet. Schwarz und groß ist sie, während der ganzen Vorstellung rieseln grüngelbe Lamettablätter herab, die eine Herbstwiese entstehen lassen. Die Musiker Sandy Lopicic und Matthias Loibner, die eine spannende Atmosphäre entstehen lassen auf dem schmalen Grat zwischen Dissonanz und Harmonie, halten sich im Dunkel des Hintergrunds.

Vorne sitzt der Autor auf einer imaginierten Bank, bald gesellen sich die Großeltern (Gabriela Maria Schmeide, Matthias Leja), die Mutter (Oda Thormeyer) und deren vier Geschwister dazu. Sie necken den Nachfahren, den Zerrissenen, der inzwischen älter ist als sie selbst. „Kannst du uns nicht endlich in Ruhe lassen?“, fragen sie mürrisch. Und bieten sich zugleich willig als Projektionsfläche für die Fantasien des Dichters an.

Wovon träumt der? Vom richtigen Leben im falschen? Zwei der Geschwister seiner Mutter sind zu den Partisanen gegangen, waren beim einzigen organisierten Widerstand gegen das Nazi-Regime im ganzen Reich: Ursula (Bibiana Beglau), die bittere Magd, die aufblüht, als sie unter dem neuen Namen Snežena (die Schneeige) zur Kämpferin wird. Aufgelehnt hat sich auch der verehrte Onkel Gregor, der sensible, einäugige Obstbauer, der an der Fachschule in Maribor/Marburg als junger Mann in der Zwischenkriegszeit die Welt kennengelernt hatte, der kein Blut sehen kann und (bei Gotscheff) zum Kommandanten im Wald wird, der nicht vor der Hinrichtung schwach gewordener Mitkämpfer zurückschreckt. Jonatan nennt er sich dort oben in den Bergen.


Starke Frauen. Diese beiden Geschwister sind die Leitfiguren des Dramas, konsequent in ihrem Widerstand. Pathos und Sentiment, dem Kärntner an sich nicht fremd, ist in diesem Fall angebracht. Die überwiegende Mehrzahl der Partisanen ist damals im Kampf gegen Hitlers Truppen gefallen. Valentin hingegen (Hans Löw), der zweitälteste Bruder, ist ein leichtlebiger Frauenheld, der sich zu arrangieren weiß, der Englisch spricht und vom Westen träumt, während er in der Wehrmacht dient. Und Benjamin (Heiko Raulin), der unbeholfene jüngste Bruder, bleibt eine Randfigur, auch weil er als erster beim Fronteinsatz ums Leben kommt.

Drei Kinder verlieren die Großeltern im Zweiten Weltkrieg, und diese Szenen mit den Todesnachrichten sind tatsächlich rührend. Fluchend und lästernd, heulend wie irre Könige auf der Heide begegnen sie dem Grauen. Zur Überfigur wird da die Großmutter in ihrem Hader, den zusammengekauerten Großvater im Schoß wiegend. Diese starke Frau wird dennoch die Überlebenden zurück zu den Partisanen schicken. (Stark ist dieser Auftritt, stark auf ihre jeweils individuelle Art sind die drei Schauspielerinnen in einem hervorragenden Team.) Harte, Härte gewohnte Bauern sind diese Eheleute. Das Wort Tragödie darf in ihrem Haus nicht vorkommen. Und auch das Wort Liebe verbittet sich der Großvater.

Die Liebe aber kommt auf Umwegen in dieses Haus und trifft umso stärker die am ärgsten zerrissenen der Figuren. Die Mutter des Erzählers wird in ihrer ersten Liebesnacht von einem deutschen Soldaten geschwängert, sie ist eine lebenslustige Person und auch des Spotts mächtig. Thormeyer hat eine grandiose Szene, als sie zu lachen beginnt und aus diesem Gelächter die Parodie der deutschen Hymne wird.

Mit Misstrauen begegnen die Geschwister ihrem Bankert, das vom Großvater im Schmerz in einem Atemzuge mit der Hitlerei und all dem Bösen verflucht wird. Das treibt die Mutter aus dem Haus, bis nach Deutschland, auf der Suche nach dem Kindsvater. Nur am Rande wird diese Geschichte erzählt, beiläufig, und ist gerade deshalb wahr.

Diese Umstände erklären vielleicht die Vorsicht und die Ambivalenz, mit welcher der Erzähler mit seiner Geschichte verfährt. Der Riss geht mitten durch die Familie, durch die Person. Auch zur Sprache entwickelt er eine Hassliebe, träumt von slowenischen Urworten, verachtet das neudeutsche Klischee. Unbeholfen und beholfen zugleich sind seine Sätze, der höchsten Poesie, dem Kalauer wie auch dem Pathos ist der Dichter fähig. Das Kind des Deutschen verkündet in hohem Ton in der Sprache der Herren jene Episode, in der die slowenischen Kärntner einmal Sieger sein durften. Aber der Obstgarten Gregors geht dann trotzdem in Flammen auf, weil andere Sieger, die Briten, einen Parkplatz für ihre Panzer brauchten und weil sie sich rasch arrangierten mit den anderen.

Der Schluss aber, den Gotscheff zu einem viel zu langen Monolog macht, in dem Harzer wütend in der Klage und allzu belehrend wird, wirkt wie ein schwaches Nachspiel zu den besinnlichen vier Stunden davor. Man fragt sich, ob der Regisseur nun nicht gar ein dekonstruktives neues Spiel begonnen hat, das den Autor ironisch persifliert. Schon in einer Szene zuvor war das Ich mit einem langen Bart aufgetreten, wie ein wütender Prophet, der seine Jeremiaden gegen die Welt schleudert. Harzer schwankt über die Bühne, fällt hin, richtet sich auf, fällt wieder hin. So niederschmetternd kann sentimentale Erinnerung sein?


Befreit von schwerer Last. Wie eine Verirrung wirkt dann auch der letzte Auftritt, eine Suada jenseits der Familientherapie, bei der unser Dichter auf eine imaginäre Couch gelegt wird. Verlassen, verlassen ist er, von allen seinen guten Geistern, die wieder im Dunklen verschwunden sind. Ein einsames altes Kind. Der Blätterregen hat aufgehört, die starken Bilder und Sprachbilder wirken noch nach. Jetzt ist es Zeit für den Applaus; höflich erst, herzlich dann und schließlich stürmisch, als der Autor vom Regisseur auf die Bühne gebeten wird. Er lächelt sogar und winkt ins Publikum, als wäre er befreit von schwerer Last.

Weitere Aufführungen bei den Salzburger Festspielen in Hallein: 17., 18., 23., 24., 26. und 27. August, 19 Uhr

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.08.2011)

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