Der rasanteste Gorki aller Zeiten in Bregenz

rasanteste Gorki aller Zeiten
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"Kinder der Sonne": Das Deutsche Theater Berlin gastiert bei den Festspielen im Kornmarkttheater. Das Ensemble ist exzellent. Vom Stück ging jedoch viel verloren.

Statt Kirschgarten Kirschenkompott: Der Chemiker Protassow verzehrt es immer dann, wenn die Lage besonders brenzlig ist. Vom Deutschen Theater in Berlin kam Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“ zu den Festspielen ins Bregenzer Kornmarkttheater. Stephan Kimmig, ein Meister der neueren psychologischen Bühnenkunst, der auch mehrfach am Burgtheater arbeitete („Torquato Tasso“), hat das Schauspiel inszeniert.

Alexei Maximowitsch Peschkow, (1868–1936) der sich den Namen „Gorki“, „der Bittere“, gab, porträtierte in seinen Stücken die Klassen, die mit ihren Gewohnheiten am Untergang des damaligen Russland arbeiteten, von den Elenden („Nachtasyl“) bis zu den Bürgern („Sommergäste“). „Kinder der Sonne“ schrieb Gorki, als er nach dem „Blutsonntag“ im Jänner 1905, einem Vorboten der Großen Revolution 1917 – der Zar ließ unbewaffnet demonstrierende Arbeiter niedermetzeln – inhaftiert war. Max Reinhardt spielte „Kinder der Sonne“ – doch der Tschechow-Ableger war nicht so beliebt wie etwa „Nachtasyl“. Zuletzt wurde das Werk wiederentdeckt, war im Akademietheater, aber auch in Reichenau zu sehen.


»Reigen« à la Schnitzler. Gorki zeigt hier die um sich selbst kreisende „Intelligenzija“: Der Chemiker Protassow und seine Freunde, Freundinnen sind vollauf mit ihren Liebeswirren und ihren alltäglichen Sorgen beschäftigt. Maler Wagin umwirbt Protassow Frau Jelena, Protassow selbst wird von der jungen reichen Witwe Melanija bestürmt, ihr Bruder Boris will Protassows labile Schwester Lisa gewinnen.

Die Aufführung wirkt auf diesen „Reigen“ à la Schnitzler reduziert, entschlackt und aktualisiert. Sie ist rasant und präzise, mitunter auch sehr witzig. Freilich, es gibt Verluste. Figuren aus dem Volk, das Gorki eigentlich am wichtigsten war, fehlen, ebenso die russische Redundanz. Protassow hantiert nicht mit blubbernder Chemie, sondern mit dem Computer. Er befasst sich mit Gentechnik. Das ist ein guter Einfall. Bei Gorki bricht die Cholera aus, eine Epidemie wie die Revolution. Im Original attackiert das Volk am Ende Protassow, weil die Leute vermuten, er habe mit seinen Experimenten die gefährliche Krankheit verbreitet. Bei Kimmig heißt die Cholera (Schweine)-Grippe, einen Aufstand gibt es nicht. Am Schluss bleiben die Akteure auf ihren Gefühlswirren sitzen. Das ist ein wenig wenig. Die flapsige Sprache irritiert teilweise zwischen „Gutmenschgefasel“ und „Das Leben ist ein Scheißhaufen“. Tischlersohn Gorki nannte die Dinge beim Namen, hatte aber Sinn für eine gepflegte Ausdrucksweise und Respekt vor den Gesetzen der Bühne seiner Zeit. Das Publikum im Kornmarkttheater spendete Freitagabend dennoch starken Applaus. Zu Recht. Als Komposition ist die Aufführung schlüssig und durchaus perfekt. Und von der Beziehungskiste, aus der hier immer neue Knallkörper entfahren, versteht man mehr als sonst.


Die Ehefrau als bester Freund.
Ulrich Matthes brilliert als Protassow, der seine Frau zur Schwester, zum besten Freund, gemacht hat, den er nicht verlieren will. Nina Hoss leidet als Jelena mit Eleganz. Sven Lehmann lässt als ihr Verehrer Wagin offen, ob seine Liebesschwüre ernst gemeint sind oder er sich bloß an seiner eigenen Eloquenz berauscht. Dieser Wagin, sonst eher ein treuherziger, naiver Kerl, ist hier ein neunmalkluger zynischer Narziss und eine wirklich spannende Figur.

Alexander Khuon gibt den Tierarzt Boris, der den Freitod wählt – und wohl ähnlich psychisch labil ist wie die von ihm glühend verehrte Lisa (Katharina Schüttler). Katrin Wichmann ist großartig als Melanija, wenn sie teils dreist, teils weinerlich den zerstreuten Protassow bedrängt. Markus Graf spielt mit großer Kraft den Schlosser und Hausmeister Jegor, in dem sich facettenreich die Ambivalenz des Volkes gegenüber den Herren widerspiegelt: einerseits Ergebung, andererseits Wut.


Schöne oder wahre Kunst. Die Kontroversen über schöne oder wahre Kunst, Kunst als Selbstzweck oder im Dienste der Erbauung – die Gorki gewiss beschäftigten und sonst mehr unter „ferner liefen“ abgehandelt werden – sind hier glasklar auf den Punkt gebracht. Nicht nur insofern erinnert die Aufführung zeitweise an Botho Strauß – und in ihren aussichtslosen, aber heftigen Liebesentladungen an Edward Albee. Als Gatte der wilden Martha (Corinna Harfouch) war Matthes zuletzt in Wien zu sehen in „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ (Regie: Jürgen Gosch). Die Härte und Untiefe dieser Produktion fehlt den „Kindern der Sonne“; als Kammerspiel über Kunst, Liebe und Gesellschaft ist sie jedoch sehr gelungen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.08.2011)

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