Walter Pichler tot: Der Endlichkeit entkommen

Walter Pichler Endlichkeit entkommen
Walter Pichler Endlichkeit entkommen(c) Elfie Tripamer (Elfie Tripamer)
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Walter Pichler, meist abwesendes Zentrum der Wiener Nachkriegskunstszene ist im Alter von 75 Jahren verstorben. Sein Weg führte von der "absoluten Architektur" zur Erinnerungsarbeit.

Im Rückblick war es eher ein Abschied als eine Geburtstagsfeier: Zur Eröffnung einer kleinen, aber einmaligen Retrospektive im Wiener MAK vorigen September waren alle gekommen, die Walter Pichler begleitet und verehrt haben. Die ganze Wiener Nachkriegskunstszene erwies ihrem meist abwesenden Zentrum zu dessen 75er die Reverenz. Pichler ertrug das unerträgliche Getümmel in seinem erratischen Gefüge aus Skulpturen, Zeichnungen und Modellen mit der üblichen Haltung, elegant und ironisch. Es war ein grandioses, vielleicht auch ein letztes Aufgebot. Nur wenige Monate nachdem die Ausstellung geschlossen wurde, nachdem seine sonst streng gehüteten archaischen Kultfiguren wieder heimgekehrt waren in ihre Klausen auf seinem alten Bauernhof im Südburgenland, ist er verstorben.

Am Montag erlag Walter Pichler einem Krebsleiden. Mit ihm hat der „Sir“ einer Generation künstlerischer Berserker die Bühne verlassen, die in der Nachkriegszeit Österreich aus dem Sumpf gerissen, dem kleinen Land einen großen Ruf in der internationalen Gegenwartskunstszene verschafft hat.

Utopist mit Faible für Maßanzüge

Die Lager waren nicht so getrennt, wie die Geschichte es glauben machen will, aber sie hatten unterschiedliche Stile: Da waren die „Wiener Gruppe“, die „Wiener Aktionisten“ und an den Nachbartischen die utopistischen Architekten, die „Englische Flotte“, benannt nach Pichlers Faible für Maßanzüge, für die das gleichnamige Wiener Nobelgeschäft stand. Pichler, Hans Hollein, Coop Himmelblau und Raimund Abraham fuhren unter dieser Flagge. Sie formulierten radikale Manifeste, wie man das in den 1960er-Jahren tat, forderten eine „absolute Architektur“. „Architektur ist nicht die Hülle für die primitiven Instinkte der Massen. Architektur ist Verkörperung der Macht und Sehnsüchte weniger Menschen. [...] Sie ist eine Waffe“, schrieb Pichler. Die Gesellschaft musste verändert werden, der Anspruch war elitär, die Worte groß. Und die Welt zeigte sich beeindruckt.

1967 war er mit Hollein und Abraham im Museum of Modern Art in New York in der Ausstellung „Visionary Architecture“ vertreten. Im Jahr darauf zeigte er bei der „documenta 4“ seine „Prototypen“: zynische Prothesen für eine vom Medienkonsum bestimmte Welt – etwa TV-Helm und Telefonset. Er experimentierte mit Materialien und Technologien aus Raumfahrt und Autoindustrie, sein Aluminiumsessel „Galaxy Chair“ war gefedert wie ein Citroën. Doch Pichler hob nicht ab, kehrte vom Höhenflug der 1960er zurück. Zurück zu etwas, das er „Erinnerungsarbeit“ nannte. Er begann sich formal auf das für ihn Wesentliche zu konzentrieren. Auf das, mit dem die Kultur der Menschen begann – den Kult, den Mythos, die Anbetung des eigenen Abbilds. Pichler hatte für dieses Lebensprojekt Ende der 1960er das richtige Gepäck – er hatte in Tirol, Wien und Paris Grafik und Skulptur studiert, war u. a. nach Südamerika gereist, hatte in New York den Beginn von Pop Art und Weltraumbegeisterung erlebt und erste Erfolge gefeiert. Und er hatte 1972 in St. Martin an der Raab im armen Südburgenland ein altes Gehöft gefunden, das er zu verwandeln begann.

Bereits 1960 war seine erste „kleine Figur“ entstanden, es folgten die „Alte Figur“, die lanzenartigen „Stele I“ und „Stele II“. Nicht irgendwelche Skulpturen, keine Dekorationen oder formalen Experimente, kein Futter für den Kunstmarkt. Pichler verkaufte seine Figuren nicht. „Sollen sie doch Springbrunnen kaufen“, richtete er Sammlern aus. Die aus Zeit und Welt gefallenen Kultobjekte mit menschlichem Maß und eigener Individualität waren nicht zu haben. Es sind archaische Konglomerate aus Holz, Stein, Metall, Leim, Knochen. „Primitiv hat mir immer besser gefallen als sophisticated“, sagte er dazu. Es gibt bekleidete und fragmentierte, ganze und zusammengesetzte Selbstporträts wie die Schokoladenbüste Pichlers, die ihm sein Kollege Dieter Roth vererbte. Meist stehen oder liegen sie, selten sitzen sie. Pichler baute eigene Skulpturenbetten: etwa Krankenhausliegen mit der Negativform eines Körpers, dessen Umrisse mit Glasscherben betont sind.

„Die Kunst könnte ein wenig fremder sein“

Wenn Figuren auf seltene Reisen zu Ausstellungen gingen, gab Pichler ihnen gerne eine kleinere Figur mit auf den Weg: einen „Aufpasser“, einen „Umhersteher“, einen Stellvertreter des Künstlers. Aber sie kamen immer wieder zu ihm zurück, nach Hause. Denn über vier Jahrzehnte hinweg bekamen viele eigene Behausungen in St. Martin. In präzise geplanten Bauten, Lichteinfall und Aufstellungsort genau inszeniert. Ein befremdlicher, faszinierender Ort. „Die Kunst könnte ruhig ein wenig fremder sein, es muss nicht immer alles erklärt werden“, meinte er dazu. In Architekturmodellen ging Pichler noch weiter, dachte an ein Haus in Form einer Schädeldecke, plante in den letzten Jahren für Tiroler Sammler eine Art tief in den Hang gegrabene Kult-Schatzkammer.

Im ältesten „Haus“ seines Tempelbezirks hat Pichler ein kleines altes Holzkreuz „würdevoll weggesperrt“, in einer Art Flügelaltar. Der gebürtige Südtiroler erzählte von seiner „strengen katholischen Erziehung“. Auch sein Hang zum Handwerk lag in der Familie, der Vater war Schuster, der Großvater Schmied. Stärker als angenommen könnte das Biografische bei Pichler eine Rolle spielen. Seine fantastischen Zeichnungen, die sein Leben und Denken begleiteten, erzählen existenzielle Szenen: von Familie und Tod, von Mutter und Paaren, von Wanderern und Verletzten. Das ist der Kult, um den sich die Figuren drehen. „Die Leute leben viel zu lustig für ein Leben, das mit dem Tod endet“, sagte Pichler. Dem Entkommen dieser Endlichkeit, der Zeitlosigkeit, war sein Werk gewidmet. In die ist er jetzt selbst eingegangen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.07.2012)

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