Tezuka: Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein

(c) Osamu Tezuka
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Osamu Tezuka hat die Comic-Welt des 20. Jahrhunderts geprägt wie kein anderer. Nun werden Hauptwerke aus seinem 150.000 Seiten umfassenden Schaffen in Übersetzungen publiziert.

Auf die Frage, warum Comics in Japan populärer sind als anderswo, erhält man dort öfter eine sehr knappe Antwort: Osamu Tezuka. Klar, auch im Westen sind etwa Walt Disney oder „Tim und Struppi“-Schöpfer Hergé Haushaltsnamen. Aber das lässt sich nicht annähernd mit der japanischen Verehrung für den Mann vergleichen, den man nur als „Gott des Manga“ bezeichnet. In seinem Standardwerk „Manga: 60Years of Japanese Comics“ versucht sich Autor Paul Gravett an einer Art Definition: „Tezukas Einfluss in Japan könnte man sich als Äquivalent einer Personalunion aus Disney, Hergé, WillEisner und Jack Kirby vorstellen – nur greift das noch immer viel zu kurz.“

Obwohl Osamu Tezuka relativ früh starb – an Krebs, mit 60 Jahren, im Februar 1989 –, ist sein Schaffen kaum zu überblicken. Mindestens 150.000 Seiten hat er gezeichnet, dabei gilt schon seine Comic-Produktion vor seiner ersten Veröffentlichung 1946 als „unüberschaubar“. Ein echter Workaholic war er jedenfalls: In seiner letzten Dekade verbrachte er viel Zeit im Krankenhaus, wo er zwischen mehreren Operationen unermüdlich weiterzeichnete – dabei war der Dauerstress seiner rastlosen Manga-Produktion ein Hauptgrund für seine gesundheitlichen Probleme. Doch der Arztsohn und studierte Mediziner Tezuka sah im zeichnerischen Schaffen nicht nur einen Beruf, sondern eine humanistische Berufung. „Cartoons sind eine Universalsprache“, sagte er 1987 bei einem späten Vortrag in den USA an der Universität Hartford: „Meine Hoffnung ist, dass sie ihre Grenzen überwinden und die weltweiten kulturellen Beziehungen befreien.“


„Faust“ und Science-Fiction. Dass Tezuka da noch immer von Cartoons sprach, ist irgendwie rührend: Sein unschätzbarer Einfluss manifestierte sich nämlich im Manga-Boom der Nachkriegsjahre erstmals, indem er erfolgreich aus der üblichen Form von Comic-Strips für Zeitungen ausbrach. „Story Manga“, also lange Handlungsbögen in Buchform, schwebte ihm vor. Der Erfolg von „Die neue Schatzinsel“(1947), einer mit dem etablierten Mangaka Shichima Sakai entworfenen Variation klassischer Abenteuerstoffe, etablierte ihn als Comic-Schöpfer im großen Stil. Dabei stieß er gleich auf ein Problem, das ihn seine Karriere lang verfolgte: Sakai strich Handlungsteile, die er als nicht kindgerecht empfand. Solche Kompromisse nagten an Tezuka, dessen lebenslange Mission es war, aus Manga mehr zu machen: nicht nur leichte Unterhaltung vor allem für Kinder, sondern universale Geschichten für alle Altersgruppen.

So folgten gleich unterschiedlichste Tezuka-Bände: Einerseits lebte er sein Faible für Science-Fiction aus, etwa mit „Metropolis“ (1949), einer futuristischen Saga, die von einem Foto der Roboterfrau Maria aus Fritz Langs gleichnamigem Stummfilm inspiriert war. Andererseits adaptierte er Literaturklassiker wie „Faust“ (1949) und „Schuld und Sühne“ (1953) ebenso wie Disney-Filme, etwa „Bambi“ (1951) und „Pinocchio“ (1952). Das Kino – als Zeichentrick und Realfilm – hatte überhaupt einen entscheidenden Einfluss auf Tezuka: Es inspirierte ihn zu dynamischer Gestaltung seiner Comic-Panels und Perspektivwechseln. Eine gestalterische Revolution im bis dahin eher statischen Manga-Universum.


Kulleraugen-Pionier. Kaum ein Bereich, in dem Tezuka nicht die Pionierrolle innegehabt hätte: Mit erst in Manga-Zeitschriften serialisierten Stoffen wie „Kimba, der weiße Löwe“ (ab 1950) oder „Astro Boy“ (ab 1952) wurden seine Geschichten mehrbändig und immer vielschichtiger. Aus den zwei Reihen entwickelte er eine Dekade später auch Anime-Serien, die ihm und seinem 1961 gegründeten Studio „Mushi Productions“ TV-Erfolge beschieden.

Als dritten Klassiker setzte er seine ab 1953 publizierte Reihe „Der Ritter der Schleife“ für das Fernsehen um. Es geht um eine Prinzessin, die sich als Junge ausgeben muss, um Thronfolger zu werden. „Shōjo Manga“ in Buchlänge war geboren: jene japanischen Comics, die sich an Mädchen richten, als Gegenstück zu „Shōnen Manga“ für Buben, für die „Astro Boy“ typisch ist. Diesem Atomjungen hat Tezuka übrigens seine eigene gezackte Bubenfrisur als Markenzeichen gegeben. Auch seine zahllosen Gastauftritte als gezeichnete Figur im eigenen Schaffen belegen, wie persönlich seine Kunst für ihn gewesen ist. Dabei beließ er ihr immer ein kindliches Element, auch als die Geschichten düsterer, die Hintergründe realistischer, die Themen schwerwiegender wurden: Viele Figuren zeichnete er im karikaturistischen Cartoon-Stil, manchmal nur für komische Einlagen. Auch die berüchtigten Untertassen-Kulleraugen im Manga gehen auf Tezukas Konto: Er erkannte, dass er so leichter Gefühle ausdrücken konnte.

Dass Tezukas Stil von Disney beeinflusst war, gab er offen zu: Immer wieder zeichnete er direkte Hommagen. So war es pikant, als Disneys Kreative den erfolgreichen „König der Löwen“ als Tezuka-Hommage anlegten – was nach dem Tod des Manga-Gottes vom Management abgestritten wurde. Es kam zu Plagiatsvorwürfen, zumal Disneys Animationshit deutliche Parallelen zu „Kimba, der weiße Löwe“ aufweist – was Tezuka zweifellos als Ehre empfunden hätte. Während die Abenteuer seines Löwenjungen 1977 mit Verspätung Tezuka-Bilder auch in deutschsprachige Kinderzimmer trugen, war ihr Schöpfer freilich schon mit ganz anderen Dingen beschäftigt.

Denn die 1960er-Jahre hatten für Tezuka zwar triumphal begonnen, am Ende der Dekade war er aber in der Schaffenskrise: 1960 erfüllte sich mit „Alakazam – König der Tiere“ endlich sein Traum vom Anime-Film, der Erfolg seiner TV-Serien ging soweit, dass ihn Stanley Kubrick wegen „Astro Boy“ einlud, an „2001: Odyssee im Weltraum“ mitzuarbeiten. Tezuka lehnte ab: Er wollte nicht für ein Jahr nach England ziehen. Doch daheim frustrierten die Auflagen des Fernsehens – etwa das obligatorische Happy End am Ende jeder Folge – seine Ambitionen.


Erotik und Reinkarnation. 1968 trat Tezuka bei Mushi Productions zurück, schrieb aber weiterhin Drehbücher, als sich die Firma (bis zum baldigen Konkurs) auf psychedelische Erotik-Animes wie „Cleopatra: Queen of Sex“ (1970) verlegte. Neue Zeiten waren angebrochen: Gekiga, die erwachsenere Variante von Manga, hatte in den 1960er-Jahren Fuß gefasst und Tezukas Popularität nahm ab. Doch dann erkannte er im Umbruch die Chance für einen Neuanfang: 1954 hatte er sein Traumprojekt „The Phoenix“ in Angriff genommen und wieder abgebrochen, 1967 erschien endlich der erste Band. Bis zum Lebensende arbeitete er an dieser außergewöhnlichen Serie über Reinkarnation und philosophische Fragestellungen, wobei er mit jedem Buch durch Raum und Zeit sprang – von der weit zurückliegenden Vergangenheit bis zur fernen Zukunft. Obwohl unvollendet, ist der Zyklus mit seinen zwölf jeweils in sich abgeschlossenen Geschichten eines von Tezukas größten Werken.

In dunklen Thrillern wie „The Book of Human Insects“ (ab 1970) oder „MW“ (ab 1976) zeigte sich dann der Einfluss von Kafka oder Edgar Allen Poe, mit „Adolf“ (ab 1983) entwarf Tezuka einen Historienkrimi vor dem Hintergrund des Nazi-Regimes. Zuvor hatte er zwei Hauptwerke abgeschlossen: „Black Jack“ (ab 1973) über einen wohltätigen, aber unheimlichen Doktor – ein Herzensprojekt, zumal Tezuka wegen seiner Manga-Schaffensfreude selbst nie als Arzt praktizierte. Und mit „Buddha“ lieferte er ab 1972 eine charakteristisch vielschichtige und eigenwillige Comic-Biografie des Religionsgründers. Das 3000-Seiten-Epos erscheint eben erstmals auf deutsch, bei Carlsen, wo bereits wesentliche Tezuka-Werke wie „Kimba“, „Adolf“ oder der ab 1966 publizierte „Black Jack“-Vorläufer „Kirihito“ verlegt worden sind.

Gerade ist der dritte der zehn „Buddha“-Bände erschienen, schon der erste macht klar, wie weit Tezuka in dieser, seiner längsten durchgehenden Erzählung ausholt. Es beginnt mit der Erzählung einer Parabel über ein Kaninchen, das sich freiwillig für einen verhungernden Mönch opfert, indem es in dessen Lagerfeuer springt. Ein anderer Mönch wird danach ausgeschickt, weil die Geburt eines Auserwählten bevorsteht – die findet jedoch erst knapp vor Ende des Buchs statt.

Indessen hat eine ausladende Abenteuergeschichte um einen kleinen Dieb, der magischerweise in Tiere schlüpfen kann und einen Sklavensohn, der von einem General adoptiert wird, ein reiches Gesellschaftspanorama entworfen. Die spirituellen Fragen verwebt Tezuka charakteristisch mit sozialen: Die Ungerechtigkeit des indischen Kastensystems dient ihm etwa als Metapher für eine antirassistische Botschaft, die er immer wieder neu verpackte – gespiegelt in Kämpfe unter Dschungeltieren in „Kimba“, sogar in Roboterkriege bei „The Phoenix“.

Dabei bietet „Buddha“ auch den ganzen stilistischen Reichtum des späten Tezuka – Kinder-Slapstick und philosophische Meditation stehen direkt neben grausamer Gewalt und sexueller Deutlichkeit. Außerdem finden sich viele Figuren des Tezuka-Universums in neuen Rollen. Seine Filmobsession hat der „Gott des Manga“ noch auf ganz andere Weise umgesetzt: Wie Hollywood hat er sein eigenes Starsystem erschaffen – über die Jahrzehnte kehren Charaktere wieder, manche durchlaufen dabei erstaunliche Wandlungsprozesse. Aus Rock, dem kindlichen Helden des Frühwerks „Detective Boy Rock Holmes“ (ab 1949), der dazwischen bei Tezuka schon ein böser Vampir und ein noch niederträchtigerer FBI-Agent war, wird so ein junger König, der Siddharta erst den Namen „Buddha“ gibt. Viele solcher Entwicklungen sind allerdings im Westen nur bruchstückhaft nachvollziehbar, trotz verdienter Übersetzungsarbeit in den letzten Dekaden. Als ab 1977 in Japan das Gesamtwerk Tezukas verlegt wurde, erschienen bis 1984 insgesamt 300Bände. Nur ein Jahrzehnt später musste man 100 weitere publizieren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.11.2012)

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