Vergessen und verdrängt: Die Gehilfen des Holocaust in Belgien

Holocaust-Museum Mechelen
Holocaust-Museum Mechelen Privatkollektion der Bondy-Familie
  • Drucken

Vom „SS-Sammellager Mechelen“ wurden fast 26.000 Juden, Roma und Sinti nach Auschwitz deportiert. Nun geht ein Museum der Frage nach, wie Massengewalt entsteht.

Fast zwei Jahre war die Dossin-Kaserne von Mechelen für tausende Menschen die letzte Station vor den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau. Vom 4. August 1942 bis 31. Juli 1944 deportierten 28 Todeszüge 25.250 Juden sowie 352 Roma und Sinti von der Ende des 18. Jahrhunderts von den Habsburgern erbauten Kaserne.

Nur die wenigsten von ihnen waren belgische Staatsbürger; 40 Prozent der aus Mechelen Deportierten waren Polen, die in den 1920er- und 1930er-Jahren vor dem rabiaten Antisemitismus in der polnischen Republik nach Belgien geflohen waren. Weitere gut 20 Prozent der aus Belgien Verschleppten waren 1933 und 1938 aus Deutschland beziehungsweise Österreich emigriert. Das belgische Asyl sollte ihnen nach Hitlers Überfall im Sommer 1940 zur Todesfalle werden: Nur jeder Zwanzigste überlebte.

„Es gab Kollaboration“

Jahrzehntelang wurde die Geschichte des Holocaust in Belgien von den meisten Historikern totgeschwiegen. Wer wollte schon die Rolle von König Léopold III. hinterfragen, der im Interesse „seiner“ Belgier mit Hitler zu verhandeln versuchte, aber nichts für die fremden Juden im Land tat? Wer hatte schon den Mut, in einer Zeit wachsender Spannungen zwischen Flamen und Wallonen die belgischen – vor allem flämischen – Täter und Helfer des nationalsozialistischen Massenmordes beim Namen zu nennen? „Es ist eine Tatsache, dass es in Belgien Kollaboration gab. Bis in die 1990er-Jahre haben wir das aber vergessen“, sagt Herman Van Goethem, Historiker an der Universität Antwerpen und wissenschaftlicher Kurator des Museums für Holocaust und Menschenrechte in der Dossin-Kaserne, das im Dezember völlig neu gestaltet wiedereröffnet worden ist.

Wohlgemerkt: Die Verfolgung und Ermordung der Juden in Belgien ist hier das Hauptthema. Doch die Ausstellung soll auch dazu dienen, die Entstehung von Massengewalt zu veranschaulichen – und zu zeigen, wie die Achtung der Menschenrechte uns vor einer Wiederkehr dieses Unheils bewahren kann. Dabei vermeidet man gekonnt die Falle der Holocaust-Relativierung: Hier wird nicht verglichen, die Opfer der Völkermorde im Osmanischen Reich, in Kambodscha und Ruanda werden nicht mit denen der Shoa aufgerechnet. „Uns geht es um die Analyse: Wie funktioniert in modernen Gesellschaften die destruktive Gewalt der Macht? Bereits auf dem Spielplatz, wenn ein Schüler gehänselt wird? Das hat natürlich nichts mit Völkermord zu tun. Aber Völkermord beginnt immer mit der Diskriminierung einer Gruppe, und dann steigert sich die Gewalt.“

Ein hoher, heller Kubus beherbergt das Museum, das sich vor der Altstadt Mechelens erhebt, gleich neben der Dossin-Kaserne, die – Zeichen kommunalpolitischer Gefühllosigkeit – in den 1980er-Jahren in eine Wohnhausanlage umgewandelt wurde. Im Museumswürfel erklimmt der Besucher auf drei Stockwerken die Spirale der Gewalt: von der Manipulation der Massen über die staatlich organisierte Absonderung bestimmter Gruppen bis zur bürokratisierten Perfektionierung des Massenmordes. „So eine Diktatur kann nicht ohne Spielräume funktionieren“, sagt Van Goethem. „Es hätte auch damals einen Spielraum für Widerstand gegeben. Aber den nutzte die belgische Verwaltung nicht, wenn es um die Juden ging.“

Das Museum zeigt aber auch, dass sich trotzdem Menschen auf verschiedenen Ebenen widersetzten: von Antwerpener Polizisten, die sich unter Strafe weigerten, an Razzien der Gestapo teilzunehmen, bis zu den drei jungen Widerständlern Youra Livchitz, Jean Franklemon und Robert Maistriau, die am 19. April 1943 den 20. Zug nach Auschwitz überfielen, was 236 Juden die Flucht ermöglichte. Das war übrigens der einzige Todeszug, der jemals gestoppt wurde.

Der Aspekt der Menschenrechte

Zahlreiche Vertreter jüdischer Verbände haben die Ausstellung bereits besucht, sagt Van Goethem. Ihre Reaktionen seien positiv bis sehr enthusiastisch gewesen. „Es liegt nicht sofort auf der Hand, den Aspekt von Menschenrechten in einem Holocaust-Museum einzuführen. Aber wenn die Einzigartigkeit des Holocaust bedeuten soll, dass man ihn als historische Tatsache isoliert, bekommt man in 30 Jahren ein Problem.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.12.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.