Mit Ai Weiwei in Zelle und Zelt

Ai Weiwei Zelle Zelt
Ai Weiwei Zelle Zelt(c) REUTERS (STEFANO RELLANDINI)
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Überall ist Ai Weiwei, Superstar der Gegenwartskunst. In Venedig sind seine stärksten Arbeiten im Begleitprogramm zu finden. Im Ruhrgebiet verleiht er gerade Zelte.

Unberührt lässt dieser Raum wohl niemanden. In einer unscheinbaren ehemaligen Waisenwerkstatt auf der Venedig vorgelagerten Giudecca türmen sich 150 Tonnen Eisenstangen in Reih und Glied zu einem rostigen Meer aus sanften Wogen und Wellen, manche wollen auch eine leere Landschaft erkennen, eine verlorene sogar. Die hier aufgeschlichteten sogenannten Armierungseisen, also die Stangen, die den Stahlbeton so stählern machen sollten, stammen aus den völlig zerstörten Schulbauten, in denen 2008 im chinesischen Sichuan in etwa 5200 Kinder umkamen. Bei einem Erdbeben, dem die Gebäude standgehalten hätten, wären sie sorgfältig und nach den Richtlinien gebaut worden.

So lautet der Vorwurf, der dem chinesischen Regime gemacht wurde. Und den der Künstler Ai Weiwei nicht nur in China publik zu machen versuchte, sondern anhand mehrerer Kunstwerke auch in den Westen trug – etwa auch mit dem Steinbrocken, den er 2010 auf dem Gipfel des Dachsteins ablegen ließ. Für die Installation „Straight“ im Rahmenprogramm der Biennale Venedig ließ er die tausenden, völlig verbogenen Eisenstangen in langwieriger Handarbeit wieder geradehämmern, ließ etwas Falsches wieder „richtigmachen“, wie dazu erklärt wird. Ein Video zeigt diesen Prozess vom Einsammeln der Eisen bis zur Ausstellung.

Ai Weiweis Recherchen rund um die Sichuan-Katastrophe, u.a. auch das Sammeln aller Namen der Opfer, waren die Auslöser für die politische Verfolgung und Schikanierung Ai Weiweis in China, die in seiner Haftstrafe 2011 mündete und die ihn letztlich zum populärsten bildenden Künstler machte, den die Welt in den vergangenen Jahrzehnten gesehen hat. Mittlerweile hat sein Name eine Breitenwirksamkeit, die sich am ehesten mit der von Joseph Beuys und Andy Warhol vergleichen lässt, als diese noch lebten. Wesentlich für diese Aufmerksamkeit ist die Märtyrerrolle, in die sich Ai Weiwei immer mehr findet, wie die „Süddeutsche Zeitung“ kritisiert hat.

Überwacher des Überwachungsstaats

In seiner Hauptinstallation in Venedig erreicht diese Selbstinszenierung ihren bisherigen Höhepunkt – und damit ist nicht das lustige Holzhocker-Gewächs gemeint, das der Chinese ein wenig lieblos den Deutschen für ihren Nationenpavillon in den Giardini geschenkt hat. Pilgerstätte ist die etwas abseits vom Biennale-Rummel, aber doch in Gehweite gelegene Kirche Sant'Antonin. Wie massive Reliquienschreine stehen sechs Stahlcontainer im Kirchenraum. Von außen schlichteste Blöcke, Minimal-Art wie aus dem Geschichtsbuch. Doch kleine, von Klappen verborgene Sichtfenster versprechen ungeheuerliche Einblicke. Ai Weiwei hat in diesen Schaukästen sechs Alltagsszenen seiner 81-tägigen Gefangenschaft nach Art klassischer Dioramen, also so lebensecht wie auf einer Puppenbühne möglich, nachbauen lassen.

Man sieht den offiziell wegen Steuerdelikten an einem unbekannten Ort Inhaftierten beim Verhör, beim Duschen, auf der Toilette, beim Essen, beim Auf- und Abgehen in der Zelle. Immer flankiert von zwei Sicherheitskräften. Man umkreist die Eisenkästen, immer auf der Suche nach dem nächsten Guckloch, man wird einerseits zum Voyeur des Intimlebens des Superstars, andererseits zum Überwacher des Überwachungsstaates.

Ai Weiwei – unser aller Dissident und Märtyrer. Die Kirche wird wohl nicht umsonst gewählt worden sein als Aufstellungsort. Zur Eröffnung schickte der Künstler, der China zur Zeit nicht verlassen darf, seine über 80-jährige Mutter. Und die ganze Installation heißt auch noch „S.A.C.R.E.D“.

Nach dem Auffliegen des US-Abhörsystems Prism scheint Ai Weiweis Kampf gegen den chinesischen Überwachungsstaat auch der unsere zu sein; natürlich hat er die Kampagne „Stop Watching Us“ als einer der „prominentesten Unterstützer“ bereits unterschrieben, wurde bekannt gegeben. Ist Zelten vielleicht die Lösung? Mit 1000 igluartigen Unterkünften hat Ai Weiwei jedenfalls gerade das Kunstfestival an der Emscher in Nordrhein-Westfalen beschickt. Bis zum 6.Oktober können Besucher dort abtauchen, um zwölf Euro pro Nacht ein Zelt schnappen und zwischen Kunst und Natur übernachten. (Besser vielleicht nicht mit Kreditkarte zahlen und Smartphone sicherheitshalber abdrehen.)

Ai-Weiwei-Ausstellungen im Rahmenprogramm der Biennale Venedig: Bis 15.September, Zuecca Project Space, Giudecca, fondamenta delle Zitelle 32 und Sant'Antonin. Und bei „Emscherkunst“: Bis 6. Oktober.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.07.2013)

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