Comic-Preis: Höllische Erfahrung in Europa

(c) Avant-Verlag
  • Drucken

Am Freitag wird der Max-und-Moritz-Preis, die wichtigste Comic-Auszeichnung im deutschsprachigen Raum, vergeben. Ein Favorit: die Graphic Novel »Unsichtbare Hände«.

Was der Deutsche Buchpreis für die Literatur ist, ist der Max-und-Moritz-Preis bei Comics: Die jeweils renommierteste Auszeichnung im deutschsprachigen Raum, logischerweise lanciert zum Auftakt der bedeutendsten Veranstaltung für das Medium. Der Buchpreis wird zu Anfang der Frankfurter Buchmesse vergeben, der Max-und-Moritz-Preis zu Beginn des Internationalen Comic-Salons Erlangen, der seit 1984 alle zwei Jahre stattfindet, weswegen die bayerische Stadt schon länger für ein Wochenende im Mai oder Juni von einschlägig Interessierten überschwemmt wird.

Zur heurigen Eröffnung kommenden Donnerstag werden sich trotz Fußball-WM-Konkurrenz wohl wieder vorab Schlangen beim Erlanger Rathaus bilden, um bis Sonntag ein reichhaltiges Programm auszukosten: 150 internationale Aussteller und über 450 Comic-Künstler als Gäste, darunter weltberühmte Größen wie der Franzose Jacques Tardi, der US-Malteser Joe Sacco und der Deutsche Ralf König. Knollennasen-Kultzeichner König ist auch der Einzige, dessen Preis bei der Max-und-Moritz-Gala nächsten Freitagabend in Erlangen schon bekannt gegeben wurde: Diesmal wird er nämlich für sein Lebenswerk prämiert, nachdem er u. a. schon 1992 als bester deutscher Comiczeichner oder 2010 für den besten Comicstrip (für die biblisch inspirierten Serien „Prototyp“ und „Archetyp“) ausgezeichnet wurde.

Auch Österreich im Rennen. D
ie Anzahl der Kategorien hat sich seit der ersten Max-und-Moritz-Vergabe 1984 stark erweitert: Erst gab es nur drei Preise (Comicstrip – erster Sieger übrigens: „Hägar der Schreckliche“ –, deutschsprachiger Comic-Künstler bzw. Comicpublikation), zuletzt wurden 2012 neun Auszeichnungen verteilt, auch für Spezialgebiete wie Kindercomics. Das zeigt, wie sehr die Bildergeschichten an Renommee zugelegt haben – und dass das deutschsprachige Angebot gewachsen ist.
Insgesamt 25 ins Deutsche übersetzte Neuerscheinungen der letzten zwei Jahre sind heuer nominiert, darunter so herausragende Werke wie die „Buddha“-Serie des japanischen Manga-Gottes Osamu Tezuka, der modernistische Comicroman „Jimmy Corrigan – Der klügste Junge der Welt“ von US-Ausnahmezeichner Chris Ware oder die brillante französische Politsatire „Quai d'Orsay – Hinter den Kulissen der Macht“ von Christophe Blain und Abel Lanzac, die eben erst von Bertrand Tavernier verfilmt wurde.

Die gebürtige Österreicherin Ulli Lust ist für ihre ambitionierte Adaption von Marcel Beyers NS-Ära-Roman „Flughunde“ im Rennen, 2010 erhielt sie für ihr Durchbruchswerk „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“ den erstmals vergebenen Publikumspreis. (Der Wiener Nicolas Mahler ist trotz hoher Produktivität nicht dabei, nachdem er von 2006 bis 2010 in drei verschiedenen Kategorien abräumte.)

Als Mitfavorit gilt auch der international gefeierte Comic „Unsichtbare Hände“ des Finnen Ville Tietäväinen, der seit Kurzem in deutscher Übersetzung vorliegt: Noch bevor die Frankfurter Buchmesse heuer ihren finnischen Gastland-Schwerpunkt setzt, ist das ein Beleg für die lebendige Comicszene der nordischen Nation, deren Experimentierfreude man ausgiebig in der Anthologie „Comic Atlas Finnland“ (von Reprodukt) studieren kann. Und ein überzeugendes Beispiel für die spezielle künstlerische Kraft des Mediums: Ein politisch brisantes Thema – das Schicksal illegaler Immigranten aus Afrika auf Spaniens Gemüseplantagen – wird mit einer Komplexität erzählt, die vergleichbare Versuche in Literatur und Kino bislang missen lässt.

Fünf Jahre hat Autor Tietäväinen mit einem renommierten Anthropologen recherchiert, um aus vielen Erfahrungsberichten die (fiktive) Geschichte des armen marokkanischen Familienvaters Rashid zu destillieren. Die gewaltige Eröffnung der Graphic Novel schildert eine gefährliche Überfahrt mit Schleppern durch eine Unwetternacht in düsteren Blautönen, aus denen holzschnittartige Gesichter hervorstechen. Dann springt die Handlung zurück, um Rashids Beweggründe zu schildern, nach seiner Ankunft in Europa wartet sanktioniertes Elend: Die Leitfarben dieses Prachtbands sind gedeckte Varianten von Dreckbraun.

Bemerkenswert ist „Unsichtbare Hände“ aber nicht nur ästhetisch, mit kühnen Panel-Arrangements von subjektiven Einschüben zu „objektiven“ Vogelperspektiven aus größter Höhe und in der detaillierten Erzählung: Die höllische Erfahrung von Hunderttausenden erhält bis zum zusehends fiebrigen Finale ein individuelles Antlitz.

Mehr als ein Schicksal.
Aber Tietäväinens Leistung reicht weit über eine empathische, erinnernswerte Gestaltung von „Human Interest“ hinaus. Jenseits von Rashids Tragödie wirken zwei Dinge viel stärker: zum einen die differenzierte Diskussion der vermeintlichen Verheißungen Europas aus marokkanischer Perspektive, mit einem vielschichtigen Porträt der Muslime. Wenn Fundamentalisten auftreten, um für den Jihad zu rekrutieren, reihen sie sich nur unter die Ausbeuter einer untragbaren Situation. Zum anderen die systemische Analyse der verheerenden Folgen einer von der EU betriebenen Wirtschaftspolitik, die neue Formen sanktionierter Sklaverei in Kauf nimmt, solange billige Lebensmittel im Supermarkt garantiert sind. Kein Wunder, dass Tietäväinens Comic nicht nur daheim für Kontroversen gesorgt hat.

Preis und Person

Der Max-und-Moritz-Preis des alle zwei Jahre stattfindenden Comic-Salons Erlangen wird seit 1984 vergeben. Es ist die bedeutendste Auszeichnung für Comics im deutschen Sprachraum. Heuer werden die Sieger am Freitag, den 19. Juni, bekannt gegeben.

Ville Tietäväinen (*1970, Helsinki) ist Architekt und Grafikdesigner, seit 1995 zeichnet er (genau recherchierte) Comics. „Unsichtbare Hände“ hat ihn als einen der wichtigsten Comic-Künstler seines Landes bestätigt. Auf Deutsch ist der Band kürzlich erschienen: Avant-Verlag, 216 Seiten, 35 Euro (zwei Euro davon gehen an Pro Asyl).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.06.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.