Salzburger Kunstverein: Das Verwundende an Fotos

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Was ist das „Punctum“ einer Fotografie? Der neue Direktor Séamus Kealy ließ 50 Künstler je ein Foto auswählen, das für sie diesen Begriff verkörpert.

Was macht die Faszination einer Fotografie aus? Ist sie ein Ersatz für Erinnerung, ein Instrument für die Beobachtung von Wirklichkeit? Ihre Besonderheit sei „ein Stich, ein kleines Loch, ein kleiner Fleck, ein kleiner Schnitt“, beschrieb es der französische Philosoph Roland Barthes 1980 und nannte dieses ganz spezielle Moment das „Punctum“. „Das Punctum einer Fotografie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).“ Barthes schrieb „Die helle Kammer“ unter dem Eindruck des Todes seiner Mutter, deren Fotografien eine Meditation über eine stillgelegte Zeit in ihm hervorrief.

Séamus Kealy ist seit Januar 2014 Direktor des Salzburger Kunstvereins. Er hat Fotografie bei Jeff Wall in Kanada studiert, Barthes hat er schon als Zwanzigjähriger gelesen, das Thema des Punctum hat ihn bis heute nicht losgelassen. Jetzt ist er kein Künstler mehr, sondern hat als Kurator die Seiten gewechselt. Für seine erste Ausstellung in Salzburg zeigt er uns aber nicht seine eigenen „Verwundungen“, sondern lud 50 Kuratoren und Künstler ein, je eine Fotografie vorzuschlagen, die das Konzept des Punctum „emblematisch verkörpert“, so der Pressetext.

Das klingt viel komplizierter und theorielastiger, als es ist. 50 erstaunlich unterschiedliche Bilder kommen hier zusammen und bilden lose aneinandergereiht einen völlig beliebigen Bilderkosmos: Da sehen wir Kinderfotos von Adam Budak, konzeptuelle künstlerische Fotografie (Hiroshi Sugimoto, ausgewählt von Peter Weibel), einen Zeitungsausschnitt (Foto von dem FBI-Agenten Walter Walsh, Philippe van Cauteren) bis hin zu einem traurig stimmenden Zitat. „Leben ist das Licht zwischen zwei Finsternissen“ von Nabokov, beigesteuert von Kader Attia.
Alle diese Bilder tragen also sehr subjektive „Verwundungen“ in sich, die wir nicht oder nur vage nachvollziehen können. Da hilft uns eine kleine Broschüre mit kurzen Erklärungstexten weiter. Hier lesen wir, warum Anna Jermolaewa das 2010 aufgenommene Foto mit den Retro-Autos aus der Sowjetzeit auswählt hat: Es fährt auf einen Markt in Samarkand, der einst als „Knotenpunkt der Seidenstraße“ diente. Aus dem Rückfenster schaut eine Frau direkt in die Kamera, daneben sitzt ein kaum erkennbares kleines Mädchen. Erstaunlicherweise sieht Jermolaewa das Punctum dieser Fotografie in dem Mädchen, in der auf sich selbst konzentrierten Person – warum nicht in dem Rückblick als Moment, in dem verschiedene Vergangenheiten zusammenkommen?

„Verstörende Wirkung“

Der irische Fotograf Duncan Campell, bekannt für seine Dokumentation der irischen Aktivistin Bernadette Devlin, zeigt uns eines der stärksten Bilder dieser Ausstellung: Ein ausgebranntes Auto steht am Wegrand. Diese Fotografie von Willie Doherty heißt schlicht „Unfall“. Campbell erklärt: „Die Gesamtstimmung des Bildes ist vielmehr die einer Kampfpause als eines Zwischenfalls – die Straße verläuft sich, und das Auto scheint, obwohl ausgebrannt, wie artig geparkt.“ Für ihn liegt das Punctum im Aufeinandertreffen einer „allgegenwärtigen Stille“ und der Andeutung von gewalttätigen Konflikten. Er spricht von einer „verstörenden Wirkung“, und das gilt für viele der hier gezeigten Werke, da wir in jeder Banalität einen großen Impuls vermuten können. Die große Herausforderung liegt allerdings nicht darin, die teilweise sehr theoretisch angelegten Texte in der Broschüre mit den Bildern abzugleichen, sondern zu unserem eigenen Punctum zu finden. Denn diese Eigenschaft von Fotografien ist ja jenes Moment, das man selbst hinzufügt, „und was dennoch bereits da ist“, wie Barthes schreibt. Das Punctum ist die Differenz zwischen der Dokumentation einer Situation, den bildimmanenten Hinweisen und jener Leerstelle, in die wir unsere Erinnerung einfließen lassen können – das ausgebrannte Auto hat für uns nicht unbedingt mit dem Nordirland-Konflikt zu tun.

„Punctum“ ist eine erstaunliche Antrittsausstellung. Einerseits wählt der neue Direktor ein offensichtlich subjektives Thema, versteckt sich dann aber hinter einem Netzwerk von Kollegen und Künstlern. Wie hätte er auch eine Ausstellung aus seiner eigenen Punctum-Entscheidung machen können? Es hätte ja konsequenterweise zu nur einem einzigen Werk geführt. Andererseits zwingt uns diese lose Aneinanderreihung von 50 Bildern dazu, selbst die Geschichten zu finden, die Bilder zu aktivieren, die vielen Schichten von Wirklichkeiten zu entdecken.

„Punctum“: bis 21. September im Salzburger Kunstverein, Hellbrunner Straße 3, Di–So, 12–19 Uhr.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.08.2014)

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