Serbien: Wenn die Erinnerung verschwimmt

(C) Oktober-Salon
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Der von Nicolaus Schafhausen und Vanessa Müller kuratierte 55. Oktober-Salon in Belgrad wirft unter dem Titel „Disappearing Things“ einen Blick zurück.

Nur eine Flugstunde von Wien entfernt und trotzdem ein unbekanntes Terrain: die Kunstszene Serbiens. Zwar gab es nach der Jahrtausendwende einige Balkan-Ausstellungen in Graz und Wien, die nach Jahren der kulturellen Isolation erstmals ein grenzüberschreitendes Publikum erreichten. Aber im Land selbst führten politische Unwägbarkeiten, wirtschaftliche Destabilisierung und in der Folge fehlende Subventionen zum schnellen Ende der optimistischen Phase in Serbiens Kunstszene. 2007 schloss in Belgrad das Museum für Zeitgenössische Kunst, 2011 das National Museum, beide wegen Renovierungen, die bis heute anhalten.

Eine der wenigen stabilen Einrichtungen dagegen ist der Oktober-Salon. 1960 gegründet, war es bis 2000 eine regionale, unkuratierte Überblicksausstellung. Seit 2004 ist der Salon auch für internationale Künstler geöffnet. Jedes zweite Jahr wird ein internationaler Kurator eingeladen – wodurch der Oktober-Salon heute die wichtigste Ausstellung dieser Region ist, wie Mia David, Leiterin des Kulturinstituts Belgrad, betont.

Jedes Jahr ein neuer Ort

Die Veranstaltung hat weder einen festen Raum noch ein fixes Budget, jedes Jahr werde eine neue „Ruine“ gesucht, erzählt David – und davon gibt es einige in Belgrad, darunter auch die 1999 von Nato-Bomben zerstörte TV-Station und das ehemalige Polizeihauptquartier. Die stehen noch heute wie ein Mahnmal in der Stadt, noch fehlt das Geld für Abriss oder Renovierung. Auch der heurige 55. Oktober-Salon findet in einem desolaten, ehemals wohl prächtigen Gebäude statt: in der zentral gelegenen, ehemaligen Militärakademie, die irgendwann einmal das Stadtmuseum werden soll.

Ein Drittel des Budgets musste für die Adaptierung der Räume aufgebracht werden. Insgesamt standen nur 150.000 Euro zur Verfügung – das ist auch in Serbien ein sehr niedriges Budget. Zumal heuer 17 der insgesamt 31 Künstler neue Werke für den Salon schufen. Gastkuratoren dieses 55. Salons sind Vanessa Müller (Dramaturgin an der Kunsthalle Wien) und Nicolaus Schafhausen (Direktor der Kunsthalle Wien), die zugleich auch eine Kooperation planen: Ende November wird in der Kunsthalle Wien das den Salon begleitende Filmprogramm namens „Reappearing Things“ laufen.

Fünfeinhalb Monate hatten Müller und Schafhausen Zeit, die Ausstellung vorzubereiten – denn erst im April waren sie eingeladen worden. Zugleich wurde erstmals ein Open Call ausgeschickt, auf den hin 250 Künstler ihre Bewerbung einreichten. In der strengen Auswahl durch das Kuratorenduo sind 17 Künstler aus der Region, wenige aus Wien wie Marko Lulić, einige wurden auch direkt eingeladen wie Liam Gillick oder der 1985 in Berlin geborene Leon Kahane. Kahane arbeitet mit Film und Fotografie und zeigt in Serbien Werke seiner Serie „Frontex“. Das ist der Name einer privaten Firma, die für illegale Immigration an den EU-Außengrenzen zuständig ist. Die im Hauptquartier in Warschau fotografierten Aufnahmen vermitteln eine beklemmend-anonyme Atmosphäre. Überhaupt sind auffallend viele Fotografien und Filme ausgestellt – das ist etwas schade, da die hohen Räume mit den rohen Ziegelwänden mehr Skulpturen gut vertragen hätten.

Aber auch so ist dieser Salon eine über seine regionale Bedeutung hinaus bemerkenswerte Ausstellung, in der einmal mehr die Stimmung unserer Zeit in einem irritierenden Gesamtbild vermittelt wird. „Disappearing Things“ lautet der Titel, den Schafhausen im Gespräch konkretisiert: Das Verschwinden von Erinnerung und unser Umgang damit interessierten ihn.

Archivmaterial bevorzugt

Viele Künstler arbeiten dafür mit Archivmaterial, werfen melancholische Blicke zurück in die Familien- oder Kulturgeschichte. So ist in den vergangenen Jahren zu beobachten, dass in vielen Staaten wie in der Türkei, Kuwait oder auch in Serbien die Moderne aus dem Stadtbild entfernt wird. Darauf bezieht sich Dušica Dražić mit ihrem Projekt „New City“: Sie baut aus jenen weltweiten Bauten der Moderne eine fiktive Modellstadt, die als ökonomisch gescheiterte oder ästhetisch nicht mehr tragbare Stadtelemente abgerissen wurden. Ein verlorener Traum liegt auch dem Video „Resist: Disappearing Happiness“ zugrunde. Die 1959 geborene Videokünstlerin Dragana Žarevac kombiniert auf zwölf Monitoren im Internet gefundenes Bildmaterial. Es beginnt mit tanzenden Menschen und endet mit brutalen Polizeieinsätzen – und allem ist „Happy“ von Pharrell Williams unterlegt. Ein poetisches Schlussbild fanden die Kuratoren mit Edit Dekyndts „One Second of Silence“: In ihrem Video flattert eine weiße, nahezu transparente Fahne vor einem dichten Wolkenhimmel – Kapitulation oder Verlust sämtlicher Erinnerungen an die Idee bzw. Symbole von Nationalstaaten? Das Verschwinden der Dinge als Reinigung!

55. Oktober-Salon, Belgrade City Museum, Resavska Street 40b, bis 2. November

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.09.2014)

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