Finster bleibt es bis zuletzt

Cover Blast 3
Cover Blast 3(c) Verlag Reprodukt
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Manu Larcenet schockiert mit seiner vierbändigen Graphic Novel »Blast« über einen Aussteiger, der doch der Gesellschaft, die ihn verachtet, nicht entrinnen kann.

Andreas Platthaus, der deutsche Comic-Experte schlechthin, konnte sich vor Begeisterung kaum beherrschen: „Das ist ein Horrorcomic, aber ohne jeden billigen Schockeffekt. Im Film nennt man so etwas Psychothriller, im Comic sollte sich dafür die Bezeichnung ,Blast‘ einbürgern.“ Das war 2011, die Rede war vom zweiten Band der gewaltigen Graphic-Novel-Serie „Blast“, mit dem der französische Autor und Zeichner Manu Larcenet völlig neue Wege beschritt, nachdem er auch im deutschen Sprachraum mit seiner heiter-melancholischen Alltagssatire „Der alltägliche Kampf“ große Erfolge gefeiert hatte. Die dunkleren Aspekte dieser pointierten Sozialstudie waren dabei hinter einer – oft durchaus trügerischen – farbenfrohen Nettigkeit verborgen: Larcenets niedliche Knollennasen-Figuren steuerten letztlich auf ein hoffnungsvolles Ende zu. „Blast“ dagegen ist die reine Schwärze: Noir-Verzweiflung zur Potenz.

Als Basis dient auch ein klassischer Krimi-Rahmen: Ein Polizeiverhör, in dem die beiden Ermittler einen unförmigen Landstreicher namens Polza Mancini vernehmen, der beschuldigt ist, eine junge Frau so schwer verletzt zu haben, dass sie im Koma liegt. Doch die zweihundert Seiten des ersten Bandes bringen wenig Licht in diese Affäre, stattdessen beharrt der ganz gelöste Polza höflich, aber bestimmt darauf, zu erzählen, wie sich sein Leben zu diesem Punkt entwickeln konnte. Und ehe man sich versieht, findet man sich in einem existenziellen Entwicklungsroman wieder, der als Aussteigergeschichte in extremis abläuft: Der fettleibige Gastrokritiker Polza wird endgültig aus der Bahn seiner freudlosen Existenz geworden, als sein Vater an Krebs stirbt. Er lässt kurzerhand sein früheres Leben hinter sich und zieht nur mit Schnapsflaschen und Schokoriegeln als Proviant in die Wildnis, um dort in absoluter Freiheit dahinzuvegetieren – und findet unvorbereitet den „Blast“.


Farbe ins Grauen. Mit diesem visionären Ausnahmezustand bricht plötzlich Farbe in Polzas Welt ein: Das Grauen seines Daseins übersetzt Larcenet in virtuos mit Tusche und Aquarellierung erarbeiteten Grauschattierungen und tiefster Schwärze, ein Universum aus Schmutz, das selbst die noch verbliebenen Weißflächen rundherum unrein wirken lässt. Das vermeintliche Paradies des Blasts hingegen wird von bunten, krakeligen Kinderzeichnungen repräsentiert, die tatsächlich von Larcenets eigenen Töchtern angefertigt wurden. Nicht nur bei dieser stilistischen Kollision vermeint man zu spüren, warum der Comicautor früher in einer Punkband gespielt hat.

Eine Punk-Zumutung steckt auch in vielen der verstörenden Details seiner Comic-Serie (so ist Polzas Vater unerklärt als unheimliches Vogelschnabel-Wesen gezeichnet). Aber vor allem steckt die Herausforderung an jeden guten Geschmack schon in der kolossalen Hauptfigur mit ihren anarchischen Exzessen: „Ekeln Sie sich vor mir?“, fragt Polza verständnisvoll die Polizisten während seiner Schilderungen der eigenen Regression in einen Urzustand – wobei die maßlose Suche nach rauschbefeuertem Delirium oft nur Selbstbesudelung produziert. Aber mit epischer Wucht – oft schiebt er seitengroße Panels ein, die einen geradezu erschlagen – macht Larcenet aus dem möglichen Mörder und nihilistischen Aussteiger Polza eine tatsächlich tragische Figur: Sein Fluchtversuch in die Grenzbereiche des menschlichen Verstandes hat mythische Dimensionen, versinnbildlicht etwa durch wilde Waldtiere und mächtige Osterinsel-Statuen. Aber die banale Realität holt Polza immer wieder ein und reißt ihn zurück auf den Boden der (sozialen) Tatsachen: Im Verlauf der weiteren Bände wird immer klarer, dass es für ihn kein Entrinnen aus einer Gesellschaft gibt, die ihn verabscheut – er gerät nur in einen (Teufels-)Kreis zumeist verbrecherischer Randexistenzen.


Zweifel und Exzess. Polza wird zur immer faszinierenderen und zwiespältigeren Gestalt: Bei aller Anarchie will er sich dann doch nicht unter die Kriminellen einreihen – das Wechselspiel zwischen exzessiven Erinnerungen und zuvorkommendem Auftreten weckt zusätzliche Zweifel an seinem Charakter (und dem der Gesellschaft, die ihn umgibt). Je tiefer die mit irritierender Aufrichtigkeit dargelegten Einblicke in sein Seelenleben werden, desto mehr Verständnis weckt der sich doch auch selbst abstoßende Verzweiflungstäter – dabei ist ihm aber, schon als Erzähler, eigentlich nicht zu trauen. Bald wird im Verhör offenbar, dass nicht nur die Blasts Lücken in seiner Geschichte verbergen ...

Larcenet ist mit „Blast“ nicht nur ein (offensichtlicher) zeichnerischer, sondern auch ein imposanter erzählerischer Coup gelungen: Ursprünglich hatte er diese lange Reise durch die Abgründe der menschlichen Seele auf drei Bände konzipiert, vier dicke Großformate sind es letztlich geworden– ein düsteres Monument, das den Vergleich mit dem (zurecht) als epochal gefeierten Jack-the-Ripper-Comic „From Hell“ von Alan Moore und Eddie Campbell nicht scheuen muss.


Furioses Finale. Als der erste Teil von „Blast“ (deutscher Untertitel: „Masse“) vor zwei Jahren auf Deutsch übersetzt wurde, wählte ihn eine Expertenjury für den „Tagesspiegel“ prompt zur besten Neuerscheinung des Jahres. Inzwischen sind auch Band zwei („Die Apokalypse des heiligen Jacky“) und drei („Augen zu und durch“) übersetzt worden, fanden aber unverdienterweise kaum dieselbe Beachtung. In Frankreich ist diesen Sommer der Abschluss der Saga erschienen: Larcenet wartet mit einem entsprechend furiosen Finale auf. Hierzulande muss man sich noch etwas gedulden: Die deutsche Version des Abschlusswerks ist für Juni 2015 avisiert. Bis dahin kann man sich mit der Mehrfachlektüre der Auftakt-Trilogie trösten: Die anspielungsreiche Vielschichtigkeit, die Larcenet erzeugt – sei es mit allegorischen Bildern oder erzählerischen Finten – lohnt den wiederholten Blick. Soviel ist trotzdem sicher: Finster bleibt es bis zuletzt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.11.2014)

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