Hanno Loewy: „Die Zukunft war auch schon mal besser“

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ARCHIVBILD: HANNO LOEWY(c) APA/Presseabteilung der Stadt Ho (Presseabteilung der Stadt Hohene)
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Der Direktor des Jüdischen Museums in Hohenems, Hanno Loewy, zeichnet in seiner neuen Ausstellung die Geschichte der Schallplatte und der jüdischen Musik nach.

Bei Ihnen im Jüdischen Museum Hohenems singen gerade die Beastie Boys, Barbra Streisand, The Andrew Sisters, Ramones, Roza Aschkenazi, Leonard Cohen und einige mehr ihre Lieder. Auf Schallplatte.

Hanno Loewy: Schallplatten erzählen ganz viel über persönliche Lebensgeschichten, durch sie wurde ganz häufig die erste eigenständige Identität gebildet. Man hat sich durch die Schallplattensammlung definiert, man hat sich aus dem, was populär war, dann doch sein ganz individuelles eigenes Bild gezimmert – häufig in Opposition zu den Eltern. Schallplatten erzählen auch so viel über die jüdische Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Gibt es so etwas wie jüdische Musik analog zum jüdischen Witz?

Es ist ja beides eine Erfindung. Der jüdische Witz ist irgendwann um 1900 erfunden worden, vorher waren Juden wohl nicht so lustig. Der jüdische Humor, der nicht zuletzt durch die Schallplatte weiterverbreitet wurde, entstand, als die großen Brüche mit der jüdischen Tradition stattfanden. Als Tradition selbstreflexiv und damit auch Gegenstand von Ironie wurde.

Und die jüdische Musik?

Der Musikethnograph Abraham Zvi Idelsohn hatte eine sehr einfache Definition: Das ist Musik von Juden für Juden. Diese Definition setzt voraus, dass es so etwas wie eine abgeschlossene jüdische Welt gibt. Genau diese Welt ist im 19. Jahrhundert zerbrochen, durch die Aufklärung, Säkularisierung und der Massenmigration von Ost nach West. Das hat dazu geführt, dass jetzt Juden für Nichtjuden sangen und Juden Nichtjüdisches für Juden sangen. Ende des 19. Jahrhunderts wurden alle großen Kantoren plötzlich auf Schallplatte gepresst. Ist es jüdische Musik, wenn Kantoren plötzlich öffentlich singen, in einem säkularen Kontext? Nach der Definition von Idelsohn: Nein! Die Kantoren beginnen, weltliche jiddische, aber auch nichtjüdische Lieder zu singen. Aber sie tun es mit der Autorität des jüdischen Kantors. Insofern hat auch das etwas mit jüdischer Geschichte und Erfahrung zu tun. Diese Grenzen verschwimmen also.

Der Bruch mit der jüdischen Tradition hat auch die Musik betroffen.

Die ersten bekannten jüdischen Autoren populärer Musik waren davon geprägt, dass sie von der jüdischen Tradition davongelaufen sind. Insofern ist das mit der jüdischen Musik schwer zu beantworten, weil man nicht vor etwas davonlaufen kann, ohne dass es einen auch prägt. In der Popmusik ab den 1950er-Jahren sind explizite Bezüge auf die jüdische Herkunft mal mehr, mal weniger vorgekommen. Mir fällt von Simon and Garfunkel spontan kein Lied ein, womit sie mit ihrer jüdischen Identität spielen. Barbra Streisand aber hat das ganz explizit getan. Bei Bob Dylan war es eher ein ironisches Spiel, aber es kam immer wieder vor.

Sie sind seit über zehn Jahren Direktor des Jüdischen Museums. Das Haus ist dafür bekannt, sich nicht nur auf die jüdische Geschichte zu konzentrieren, sondern die Aufgabe weiter zu fassen. Es gab hier vor Jahren eine Ausstellung über Gastarbeiter aus der Türkei ...

Das Museum war Teil der kulturpolitischen Aufbrüche in Vorarlberg und hat es von Anfang an gewagt, ungewöhnliche Wege zu gehen. Die erste Dauerausstellung hat nicht das Judentum vorgestellt, indem es Kultgegenstände und Rituale präsentiert hat, sondern versucht, Alltagsgeschichte zu schreiben, eine Beziehungsgeschichte zwischen Mehrheit und Minderheit. Das war sehr mutig. Bei der Museumseröffnung 1991 hat der damalige Landeshauptmann Martin Purtscher gesagt, dass sich dieses Haus auch mit Migrationsfragen der Gegenwart zu beschäftigen hat. Das Museum hat das auch deswegen gemacht, weil es zu dieser Zeit kein anderer tat.

Das erscheint nicht unlogisch. Wenn jemand von Migrationserfahrung berichten kann, dann die jüdische Gemeinschaft.

Ja, die jüdische Präsenz hier in Vorarlberg war geprägt von Fragen über Migration, über das Leben als Minderheit, diskriminierende Gesetze, die diskriminierende soziale Realität. Aber auch davon, wie die Community ihre Traditionen leben kann und zu welchen Reibungen es dadurch kommt. Man beschäftigt sich im Wesentlichen nicht mit einer religiösen Realität, sondern mit der Reibefläche zwischen Traditionen und Gegenwart, zwischen Mehrheit und Minderheit, Zugehörigkeit, Rückschlägen, Fortschritten. Jeder, der ein Museum betritt, betritt es mit den Augen – und Fragen – der Gegenwart. In diesem Haus werden Sie aber nicht einfache Antworten und Rezepte finden, sondern viel Material, das Ihnen hilft, produktiver über diese Fragen nachdenken zu können.

Die Erfahrung der Ablehnung machen heute auch die Einwanderergesellschaften in Europa. Wie kommen wir aus diesem xenophoben Patt wieder heraus?

Die Paranoia in Europa betrifft nicht nur die Angst vor Überfremdung, es ist die Angst vor allem, die Angst vor Fortschritt, Veränderung, Einfluss, Sprachverfall. Sehen Sie sich die Umfragen an, man könnte glauben, dass die Leute lieber wie in den 1960er-Jahren leben wollen. Damals dachte man noch, die Zukunft ist was Tolles. Und heute? Die Zukunft war auch schon mal besser. In der heutigen Paranoia geht es nur noch um den Verteilungskampf. Man beginnt zu beneiden, was der andere auf dem Teller hat. Nach dem Motto: Wenn die nicht an unserem Tisch sitzen würden, ginge es uns besser. Der Schlüssel kann nur sein, dass man neugieriger aufeinander wird, auf die Erfahrung, die andere Leute mitbringen. Die sind nämlich ein Gewinn.

Dennoch müssen Ihre Besucher unterscheiden zwischen der Migrationserfahrung der Juden und der der heutigen Einwanderer.

Lange Zeit hat man von Einwanderern erwartet, dass sie unsichtbar werden. Aber das geht heute nicht mehr. Erstens sind heute mehr betroffen und zweitens bringt man bei der Einwanderung mehr Selbstbewusstsein mit. Man muss über zusammengesetzte Identitäten erst etwas lernen. Wenn ich aus der Türkei nach Österreich ziehe, kann ich eine Bindestrich-Identität entwickeln, türkisch und österreichisch sein. Wie wichtig der eine oder andere Teil ist, kann sich von Generation zu Generation ändern. Das Jüdische funktioniert anders, es ist immer pars pro toto. Du bist als Jude auch eine Symbolfigur, für Israel, für Amerika usw. Auch wenn das im Einzelnen völlig absurd sein kann.

Man ist die Schablone für die Geschichte eines ganzes Volkes?

Die jüdische Geschichte war immer schon eine symbolische. Eine verflucht kleine Gruppe, zerstreut über den Globus, bedeutet für jeden auf der Erde etwas anderes, aber für jeden bedeutet es etwas. Was du für dich selbst bedeutest, das interessiert niemanden. Wenn du als Jude selbst definieren willst, wer du bist, hast du es mit ganz vielen Erwartungen, Bildern und Projektionen von außen zu tun.

Welche Rolle spielt dabei der Holocaust?

Der Holocaust war lange identitätsstiftend, nicht zuletzt, weil er hypothetisch jeden betraf. Ich war mit einem Teil meiner Familie sehr nah dran, mit einem anderen Teil nicht so nah. Meine Eltern sind rechtzeitig nach Palästina gekommen, meine Großeltern hat es zum Teil erwischt. Ich habe in Frankfurt viele jüdische Freunde, deren Eltern im Lager waren, die haben anders darüber geredet. Bei den einen war es das tägliche Gespräch, bei den anderen das tägliche Nicht-Gespräch. Aber es war in einer bestimmten Weise immer präsent. Man lebt also mit einer nicht greifbaren Drohung, von der man aber weiß, dass man damit gemeint ist. Insofern ist der Holocaust viele Jahre lang für die jüdische Identität ein Beweis dafür gewesen, dass man Jude bleiben muss. Dass es einem nicht hilft, sich anzupassen, sich zu assimilieren – die anderen finden dich trotzdem. Das hat mich als Kind auch geprägt. Ich bin völlig areligiös aufgewachsen, das einzige Fest, das meine Eltern gefeiert haben, war Weihnachten. Aber es war klar: Vor diesem Jude-Sein kannst du nicht abhauen.

Immer wieder ziehen Persönlichkeiten, Politiker, wer auch immer, Vergleiche zum Holocaust, zu Hitler, zu den Juden. Warum hat man 70 Jahre später nicht verstanden, dass nichts damit vergleichbar ist?

Die Nazis und der Holocaust sind der Maßstab für das absolut Böse geworden. Und gegen das absolut Böse ist man selbst immer im Recht. Das wird instrumentalisiert bis zum Erbrechen. Es ist nützlich, die anderen als Nazis und sich selber als Opfer darzustellen. Damit geht es überhaupt nicht mehr um die konkrete historische Erfahrung, sondern es ist ein wohlfeiles Mittel zum Zweck innerhalb der politischen Auseinandersetzung geworden.

Steckbrief

1961
Geboren in Frankfurt am Main. Hanno Loewy studierte Film-, Theater- und Literaturwissenschaft, anschließend Tätigkeit als Publizist und Kurator.

Ab 1990
wirkt Loewy bei der Gründung des Fritz Bauer Instituts zur Geschichte und Wirkung des Holocaust in Frankfurt. Die Stiftung wird 1995 gegründet, Loewy wird Direktor.

Seit 2004
ist Loewy der Direktor des Jüdischen Museums in Hohenems in Vorarlberg.

2009 kritisiert Loewy die Wahlkampagne der FPÖ und wird vom Landeschef der Partei, Dieter Egger, als „Exil-Jude aus Amerika“ bezeichnet. Nach der Aussage des Politikers wird die FPÖ aus der Landesregierung geworfen.

Derzeit ist die Ausstellung „Jukebox. Jewkbox! Ein jüdisches Jahrhundert auf Schellack und Vinyl“ im Hohenemser Museum zu sehen.

Herr Leowy, darf man auch Fragen...

1. . . welche Schallplatte von jüdischen Sängern Sie besitzen?
Die erste Schallplatte von Wolf Biermann. Ein Lied hat mich als Kind sehr beschäftigt: „Das Familienbad: Jeden Samstag geht der nette fette Vater / Einen Eimer Kohlen holen / Aus dem Keller für das Bad / Dass er sau- / Dass er sau- / Dass er saub're Kinder hat!“ Ein ganz böses Lied über den deutschen Familienalltag, geschrieben in der DDR. Erst später wurde es ein Thema, dass Biermanns Vater ein Jude war. So böse Lieder hat kein anderer deutscher Liedermacher geschrieben.

2. . . wie jüdisch Punk ist?


Juden waren mehr an der Punkmusik beteiligt als in anderen Genres. Bei Bands wie den Beastie Boys oder The Dictators haben nur Juden mitgespielt, aber bei den typischen Punkbands wie den Ramones und The Clash standen Juden und Nichtjuden auf der Bühne. Sie haben sich auf möglichst aggressive, selbstzerstörerische, wilde, tabuverletzendste Weise mit dem auseinandergesetzt, was ihre jeweilige Peer Group, ihre Eltern, am meisten ärgerte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.01.2015)

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